Beitritt der Türkei – „Viele Leute haben das Vertrauen in die EU verloren“

, von  Anne Balzer

Beitritt der Türkei – „Viele Leute haben das Vertrauen in die EU verloren“
Die Türkei wartet seit zehn Jahren auf einen EU-Beitritt: Der türkische Premierminister, Recep Tayyip Erdoğan (l.) gemeinsam mit Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Foto: © European Commission / 2014.

Cansu Ekmekçioğlu ist seit November 2013 Präsidentin der neugegründeten JEF Türkei. Die 27-jährige Studentin der Kommunikationswissenschaft sprach mit treffpunkteuropa.de über europapolitisches Engagement in einem Land, das seit fast zehn Jahren einen Beitritt zur EU anstrebt.

Warum habt ihr JEF Türkei gegründet?

Wir haben festgestellt, dass keine Jugendorganisation existiert, die sich für die Verbesserung der Türkei-EU Beziehungen einsetzt. Es gibt einige Entwicklungen, die dazu geführt haben, dass viele Leute das Vertrauen in die EU verloren haben. Der lange Verhandlungsprozess, die ablehnende Position einiger Regierungen und die aktuelle Eurokrise haben den Wunsch nach einer Zugehörigkeit zur EU in der türkischen Gesellschaft geschwächt. Die meisten dieser Probleme lassen sich auf eine Informationslücke zurückführen. Die Bürger der EU-Staaten wissen zu wenig über die türkische Gesellschaft und Geschichte. In der Türkei wird zu wenig über die EU-Institutionen aufgeklärt. Diese Informationslücke müssen wir überwinden, denn wir sind von den gleichen Grundwerten wie Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, und Demokratie überzeugt. Wir wollen eine Zukunft mit der EU und die Vision dieser Werte weitertragen. Mittlerweile gibt es schon JEF Türkei Gruppen im ganzen Land – von Istanbul, Ankara und Izmir bis nach Van, Trabzon und Diyarbakır.

Die Beitrittsverhandlungen stagnieren derzeit, manchmal wirkt es, als wäre das ganze Thema nicht mehr auf der politischen Agenda. Warum engagiert ihr euch trotzdem?

Für uns ist die Europäische Union immer noch das nachhaltigste Friedensprojekt. Derzeit gibt es schon so viele Verbindungen zwischen der EU und der Türkei – Tourismus, Handel, das enorm viel genutzte ERASMUS Programm. Die EU ist nicht nur ein außenpolitisches Thema, sondern hat bereits weitreichenden Einfluss auf innenpolitische Reformprozesse in der Türkei. Außerdem steht außer Frage, dass gute Beziehungen zwischen der Türkei und die EU ein Stabilitätsfaktor für die ganze Region sind.

Zudem bin ich überzeugt vom Föderalismus und dem Subsidiaritätsprinzip. Nur so kann Stabilität, Frieden und Demokratie erreicht werden. Im Moment können wir diesen Diskurs hier noch nicht führen, aber wir wollen eine Debatte anstoßen. Das System in der Türkei ist zu zentralisiert, zum Beispiel werden Minderheitenrechte zu wenig beachtet. Das muss sich ändern. Ministerpräsident Erdoğans Besuch in Brüssel und [Hollandes Türkeireise->http://www.taz.de/!131863/] sind gute Zeichen, die uns Hoffnung geben. Der in Aussicht gestellte [Visaliberalisierungsprozess->http://ec.europa.eu/deutschland/press/pr_releases/11922_de.htm] und das Rückführungsabkommen sind auch vielversprechend. Neue Kapitel sind auf dem Weg. Trotz aller Schwierigkeiten, geht der Prozess voran. {{Im August werden die Bürger der Türkei den Präsidenten das erste Mal direkt wählen. Glaubst du, dass die EU ein Thema im Wahlkampf sein wird? }} Nein, leider nicht. Wir sind hier mit einem politischen Dilemma konfrontiert. Der Diskurs gründet sich auf die Gegensätze in der Gesellschaft: Kemalisten/Säkularisten versus Religion, Sunnis versus Aleviten, Kurden versus Türken, Muslime versus Nicht-Muslime. Aber wir arbeiten gerade an einer Kampagne, um die Politiker zu drängen, Stellung in Bezug auf Europa zu beziehen. Ministerpräsident Erdoğan war dieses Jahr in Brüssel und hat gesagt „2014 wird ein Europajahr sein“. Ich möchte ihm gern glauben. {{Welche Projekte plant die JEF in der Türkei für die Zukunft?}} Gemeinsam mit dem Verein [„Bridging Europe“->http://www.bridgingeurope.net/] arbeiten wir an dem Projekt „EU und Türkei: Eine neue Veständigungsinitiative“. Wir erstellen  Informationsblätter- und Infographiken, um die türkische Gesellschaft und Politik für Europäer verständlicher zu machen. Derzeit sind Freiheit im Internet und Digitale Rechte unsere Prioritäten. Insbesondere wollen wir Lokalmedien und Bürgerjournalismus stärken. Die Menschen müssen Informationen im Internet kritischer sehen und fähig sein, wahre und falsche Meldungen unterscheiden zu können. Im September starten wir unser Projekt „Demokratie auf Rädern“. Wir fahren mit einem Bus in 17 türkische Städte, treffen lokale Führungspersonen, unsere Mitglieder und andere NGOs. Wir wollen mit den Leuten vor Ort über EU-Themen diskutieren. All unsere Projekte sollen einen direkten Einfluss haben und junge Leute dazu anregen, sich gesellschaftlich zu engagieren. Das Themenspektrum umfasst Frauenrechte, LGBT- Rechte, Meinungsfreiheit, Medienvielfalt sowie Stärkung von zivilgesellschaftlichem und lokalem Engagement.

Cansu, fühlst du dich als Europäerin oder als Türkin?

Ich bin beides, eine Europäerin mit Wurzeln in der türkischen Geschichte und Kultur. Aber vielleicht bin ich kein durchschnittliches Beispiel. Ich studiere an Universitäten, die europäische und amerikanische Unterrichtsmethoden und Standards anwenden und war mit ERAMSUS in Bordeaux. Das verdeutlicht doch, wie wichtig der kulturelle Austausch ist. Deshalb hoffe ich auf weitere Fortschritte im Visaliberalisierungsprozess. Es gibt zu viele Fälle, in denen EU-Staaten türkischen Bürgern ein Visum verwehrt haben. Die Gründe sind dabei oft nicht nachvollziehbar. Wenn ein Unternehmer nicht für geschäftliche Meetings in die EU einreisen kann und Verluste macht, wird er bald in den asiatischen Staaten investieren. Wenn Studenten oder Leute, die Freunde und Verwandte in der EU haben, kein Visum erhalten, sind sie enttäuscht. So können sie sich kein eigenes Bild von der EU machen und existierende Stereotypen bestehen fort. Doch genau dieser persönliche Austausch ist nötig, um unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten.

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