Kommentar zum Brexit, Teil 1

5 Thesen, warum die Erwartungen an den Brexit verblendet waren

, von  Patrick Geneit

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5 Thesen, warum die Erwartungen an den Brexit verblendet waren

Der Brexit wackelt. treffpunkteuropa.de-Redakteur Patrick Geneit hat sich fünf Thesen, die Brexit-Verfechter*innen anbringen, genauer angeschaut. Ein Kommentar.

Ganz selbstverständlich sollte klar sein, dass der Brexit nicht „gewonnen“ werden kann. Jede Seite verliert und das einzige, was sie tun kann, ist der jeweils anderen etwas kaputtzumachen. Das wissen auch die meisten Menschen. Jedoch ist es unerklärlich, wie daraus Argumente werden, die von allen Seiten gar keinen Sinn mehr ergeben können.

Theresa May ist schuld! Sie macht einen schlechten Deal! Die EU ist ein sowjetisches Gefängnis! Großbritannien soll absichtlich geschadet werden, um andere EU-Mitglieder vor einem Austritt abzuschrecken.

Aber was steht wirklich hinter diesen Thesen?

1) Jedem steht es frei, die EU verlassen zu können.

Wenn jemand nicht mehr Mitglied im Club sein will, geht er. Das ist kein Problem. Aber warum geht es dann nicht einfach? Warum waren die Verhandlungen so nervenaufreibend? Die EU ist doch bestimmt schuld. Schauen wir uns die Lage an: Wie auch schon in den Medien oft publiziert und von der britischen Regierung oft verkündet, sind sich EU und GB bei mehr als 90% der Themen einig. Was ist dann das Problem?

Es geht um die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland. Ein Großteil der britischen Bürger*innen im Leave-Lager wollten die unkontrollierte oder ausufernde Einwanderung nach Großbritannien stoppen. Zu erwähnen ist dabei, dass ein großer und dafür auch kontrollierter Anteil der Einwanderung aber aus den alten Commonwealth-Staaten kommt. Der Austritt aus der EU sollte Großbritannien wieder komplette Selbstbestimmung darüber geben, wer nach Großbritannien einreisen und sich niederlassen darf. Das Problem ist nun, dass zum Vereinigten Königreich auch Nordirland zählt, das wiederum an ein anderes EU-Mitglied angrenzt, die Republik Irland. Das Halten von irischem Gebiet führte zu einem dreißigjährigen blutigen Konflikt in Nordirland selbst von 1969-1998. Auf der einen Seite standen Menschen, die loyal zur britischen Krone standen und gegen diejenigen kämpften, die einen vollständigen Rückzug Großbritanniens aus Irland verlangten, also Unabhängigkeit und Anschluss an die Republik Irland.

Dieser Bürgerkrieg mit tausenden Toten konnte erst durch das sogenannte Karfreitagsabkommen gestoppt werden und löste das Problem vergleichsweise elegant. Die „harte“ Grenze wurde passierbar und kontrollfrei zwischen der Republik Irland und Nordirland gemacht. Somit wurde ein Kompromiss geschaffen, der den Konflikt elegant löste: Zum einen behielt Großbritannien die staatsrechtliche Kontrolle über Nordirland. Zum anderen wurden beide Landesteile für alle Ir*innen und Nordir*innen frei zugänglich gemacht. Es entstand also eine scheinbar geeinte „Insel Irland“. Nordir*innen durften außerdem auch einen irischen Pass beantragen. Diese Geschichte holt Großbritannien nun wieder ein, denn der erste EU-Austritt widerspricht dem gefundenen Kompromiss.

2) Eine Grenze gleichzeitig zu kontrollieren und nicht zu kontrollieren ist unmöglich.

Die Regelung, die Großbritannien und die Republik Irland ohne jegliche Mitsprache der EU erzielt hat, soll nun aber fallen: Großbritannien will die Grenzen kontrollieren, aber gleichzeitig die Grenze zur EU über Irland offen lassen? Das geht nicht.

Kritiker*innen mögen einwenden, die Grenze könnte ja immer noch offen gelassen werden und man könnte sie technisch, z.B. mit Kameras, überwachen, ohne Grenzkontrollen einzuführen, um somit die Wirtschaft und die Kreisläufe nicht zu unterbrechen. Klingt schon sehr logisch, auch wenn das Narrativ vom Wiedererlangen der Kontrolle über die Einwanderung dadurch ad adsurdum gezogen wird. Mit dieser Lösung könnten EU-Bürger*innen theoretisch weiterhin temporär nach Großbritannien einreisen, selbst mit sporadischen Grenzkontrollen. Und das klingt ja sogar noch vergleichsweise positiv. Was ist aber, wenn ich EU-Kriminelle geschrieben hätte? Das wäre der Albtraum für das Leave-Lager gewesen. Oder vielleicht könnte man einfach Passkontrollen für Überfahrten von Nordirland nach Restgroßbritannien einführen? Aber dann würde sich ja effektiv die Grenze mit den Kontrollen in die Irische See verschieben - also das Land z. T. spalten. Das mag die DUP-Partei gar nicht, von der Theresa May weitgehend abhängig ist, aber dazu später mehr.

Wir sehen also, dass dieses Problem zum einen logisch und zum anderen realistisch nicht umsetzbar ist.

3) Man kann nicht Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt haben, ohne Teil davon zu sein.

Das führt zu dem Paradoxon, dass Großbritannien sich trotz Brexit einen Binnenmarktzugang erhofft. Einem Binnenmarkt gehörig zu sein, bringt einem Mitglied viele Vorteile für grenzüberschreitenden Handel. Jetzt will ja Großbritannien doch immer noch einen guten Handel mit der Rest-EU, nur die Immigration soll ja kontrolliert werden? Was hat die EU also damit für ein Problem?

Dafür muss man zunächst verstehen, was die EU eigentlich ist. Die EU ist eine Wertegemeinschaft, wenn auch ökonomisch zentriert. Großbritannien wäre nur eines von vielen Ländern. Schon alleine von der Größe und wirtschaftlichen Stärke im Vergleich zur EU hat sich Großbritannien bei den Verhandlungen überschätzt. Wie im folgenden Teil erläutert wird, erhoffte sich Großbritannien eine geteilte EU, die ihre Prinzipien nicht konsequent verfolgt.

Den zweiten Teil des Kommentars könnt ihr hier lesen.

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