Die Europa-Union Deutschland (EUD) wird am kommenden Wochenende in Düsseldorf ihren 58. Bundeskongress abhalten und sich dort ein neues Grundsatzprogramm geben. Für einen beträchtlichen Teil der Leser dieses Blogs ["Der (europäische) Föderalist"] dürfte das keine neue Information sein, da sie selbst Mitglieder der EUD sind. Ein anderer, ebenfalls nicht geringer Teil der Leser hingegen weiß vermutlich nicht einmal, dass die Europa-Union überhaupt existiert. Und damit ist schon das Hauptproblem dieses größten proeuropäischen Verbands in Deutschland benannt.
Beginnen wir also mit ein paar Hintergrundinformationen: Die EUD ist die deutsche Sektion der Union Europäischer Föderalisten (UEF), einer gesamteuropäischen überparteilichen Vereinigung zur Förderung des supranationalen Föderalismus. 1946 unter maßgeblicher Mitwirkung ehemaliger antifaschistischer Widerstandskämpfer gegründet, war die UEF in ihren Anfangsjahren eine politische Großbewegung mit über 100 000 Mitgliedern und starker öffentlicher Präsenz, die auf die rasche Gründung eines demokratischen europäischen Bundesstaates drängte. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren (die einerseits zwar den Wunsch nach einer supranationalen Organisation einlösten, andererseits aber mit ihrer technokratisch-elitären Funktionsweise dem demokratischen Ideal der Föderalisten widersprachen) zerfiel die UEF. Erst 1971 wurde sie neu gegründet – nun mit dem Ziel, die Gemeinschaften als institutionellen Kern der europäischen Integration zu akzeptieren, aber sich für ihre Stärkung und Demokratisierung einzusetzen.
Die Abwesenheit der Europa-Union aus der Öffentlichkeit
Heute umfasst die UEF weniger als dreißigtausend Mitglieder, wobei die EUD mit 17 000 Mitgliedern die bei Weitem größte nationale Sektion ist. Eigentlich sollte man deshalb meinen, dass ihr in diesen Zeiten eine zentrale Rolle in der öffentlichen Auseinandersetzung zukommen müsste. Durch die Euro-Krise ist das Interesse der Medien für europäische Themen so stark wie noch nie; der EU stehen große institutionelle Reformen bevor, bei denen Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen und politischen Macht eine Schlüsselrolle zufällt; und das Kernanliegen der Föderalisten hat nichts von seiner Plausibilität verloren: die Schaffung eines europäischen Verfassungsrahmens, in dem gemeinsame Fragen auch gemeinsam entschieden werden, und zwar nicht durch undurchschaubare diplomatische Verhandlungen zwischen den nationalen Regierungen, sondern demokratisch im Europäischen Parlament. Wer, wenn nicht die EUD sollte in einer solchen Situation in die Podiumsdiskussionen, die Talkshows und die Marktplätze drängen, um der Öffentlichkeit seine Argumente vorzustellen?
Und doch ist es in den letzten Jahren sehr still um die Europa-Union gewesen: Mit Ausnahme einer Demonstration gegen die ungarische Regierung im März 2012 war von ihr nicht viel zu hören und zu sehen. Als Dänemark 2011 dem Schengener Abkommen zum Trotz wieder Grenzkontrollen einführte, gab es öffentliche Protestaktionen nur von der Jugendorganisation JEF, nicht von der EUD selbst. Vor allem aber zeigte sich die EUD erschreckend zurückhaltend, als sich in den deutschen Boulevardmedien das Griechenland-Bashing ausbreitete. In Zeiten, in denen auch unter Angehörigen der deutschen Regierungsparteien nationaler Populismus wieder salonfähig wurde, gelang es der Europa-Union nicht, einen diskursiven Gegenpol zu bilden. Es war, als ob Greenpeace den Wiedereinstieg in die Atomenergie mit einem Achselzucken abgetan hätte: In jener Auseinandersetzung, für die die EUD wie geschaffen war, blieb sie in der Öffentlichkeit fast unsichtbar. Und auch die "europaweite Aktionswoche für eine föderale EU", die in der vergangenen Woche stattfand, zeigte keine besondere Resonanz.
Das neue Grundsatzprogramm
Am 27./28. Oktober soll nun also der Bundeskongress der Europa-Union ein neues Grundsatzprogramm verabschieden. Für die öffentliche Präsenz des Verbands ist das ohne Zweifel eine Chance: Mitten in der Krise ergibt sich die Gelegenheit, entscheidende Argumente zu setzen, der Politik eine Agenda vorzuschlagen, eine Lösung für die europäischen Sorgen zu entwerfen. Bereits seit Monaten wurde deshalb in den einzelnen Landesverbänden und auf Regionalkonferenzen über den Programmentwurf diskutiert, der nun zur Abstimmung steht. Was dabei herausgekommen ist, lässt sich hier nachlesen. Für alle Freunde großer Würfe ist es eine Enttäuschung.
Wirklich mutig wird das Grundsatzprogramm nur an einigen wenigen Punkten: So will die EUD, dass sich die EU künftig über eine eigene Steuer finanziert, dass Unionsbürger auch bei Wahlen zu regionalen und nationalen Parlamenten in ihrem jeweiligen Wohnsitzland ein Wahlrecht besitzen und dass die Außenpolitik komplett europäisiert wird – einschließlich der Vertretung bei internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen. Doch bei den meisten institutionellen Fragen bleibt das Programm deutlich zurückhaltender: So soll das Europäische Parlament ein Initiativrecht erhalten und die Kommission wählen dürfen, aber in der Gesetzgebung doch auch weiterhin nur „gleichberechtigt“ mit dem Ministerrat sein. In der Währungsunion sollen die Wirtschafts- und Haushaltspolitik zwar „verbindlich abgestimmt“ werden, aber von einer Ausweitung des EU-Budgets und einer makroökonomischen Steuerung direkt durch das Europäische Parlament ist keine Rede. Und was die Sozialpolitik betrifft, wird sogar explizit hervorgehoben, dass „[n]icht alles […] auf der europäischen Ebene geregelt werden [muss]“ – ein Teil der Landesverbände will selbst die Forderung nach europäischen sozialen Mindeststandards streichen lassen.
Eine Unzahl politischer Gemeinplätze
Vor allem aber zeichnet sich das Programm durch eine Unzahl an politischen Gemeinplätzen aus: Es geht darum, so kann man da lesen, die „Risiken der Globalisierung“ zu bewältigen. Europas Werte sind die „Unantastbarkeit der Menschenwürde und die unveräußerlichen Rechte des Einzelnen“. Die kulturelle Vielfalt ist „der Reichtum Europas“ und deshalb „zu schützen und zu fördern“. Eine europäische Öffentlichkeit ist „unerlässlich“ und erfordert eine „umfassende europapolitische Berichterstattung“. Das Handeln der EU dient „dem Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger“. (Nach einem etwas progressiveren Alternativvorschlag: „dem Wohl der hier lebenden Bürgerinnen und Bürger“. Aber sollte die EU nicht eigentlich wie jeder Staat auch dem Wohl der Weltgemeinschaft insgesamt verpflichtet sein?) Umweltpolitisch gilt es umzusteuern „hin zu einer nachhaltigen, auf erneuerbare Energiequellen gestützten Wirtschaft“. Und natürlich ist die EU offen für neue Mitglieder, „die sich zu ihren Zielen und Werten bekennen“, aber nur, solange dabei ihre eigene „Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit“ nicht gefährdet ist.
Während über all diese feierlichen Selbstverständlichkeiten mehr oder weniger Einigkeit besteht, ist die Überschrift des Programms selbst derzeit noch umstritten. Die endgültige Entscheidung wird erst auf dem Bundeskongress fallen. Zur Auswahl stehen insbesondere die Versionen „Unser Ziel sind die Vereinten Staaten von Europa“, „Unser Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa“, „Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat“, „Unser Ziel ist eine föderale Europäische Union“ sowie „Düsseldorfer Programm der Europa-Union Deutschland“ – Letzteres offenbar ein Kompromissvorschlag des nordrhein-westfälischen Landesverbands. Mit Verlaub: Haben wir wirklich keine anderen Sorgen? Folgt man der EUD, dann würde sich die Europäische Union der Zukunft kaum von der heutigen unterscheiden, nur dass im amtlichen Briefkopf künftig vielleicht ein anderer Name stünde.
Welche Rolle will die Europa-Union in Zukunft spielen?
Woher aber kommt dieser fatale Hang zum Gemeinplatz, der sich durch das Programm der Europa-Union zieht? Nach meinem Eindruck handelt es sich dabei um ein Phänomen, das man aus der Europapolitik leider nur allzu häufig kennt: die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Denn während die EUD in den letzten Jahrzehnten viel von ihrem Einfluss auf die öffentliche Meinung eingebüßt hat, hat sie in den etablierten deutschen Parteien eine erstaunliche Präsenz gewonnen: Derzeit gehören ihr nicht weniger als 71 der 99 deutschen Europaparlamentarier und 170 der 620 Mitglieder des Deutschen Bundestags an, und auch die Funktionsträger des Verbandes rekrutieren sich in erster Linie aus der Elite der deutschen Parteipolitik. Es ist kaum verwunderlich, dass darunter auch der ein oder andere ist, für den die Abschaffung der nationalen Souveränität der Bundesrepublik (die mit der Gründung eines europäischen Bundesstaats logischerweise verbunden wäre) nicht wirklich ein übergeordnetes politisches Ziel darstellt. Und der jedenfalls nicht die Stabilität der Bundesregierung oder die Erfolgschancen seiner Partei bei der nächsten Bundestagswahl dafür aufs Spiel setzen würde.
Für die Europa-Union geht es in dieser Krise auch um die Frage, wie sie ihre eigene künftige Rolle in der Gesellschaft sieht. Es gibt dabei im Wesentlichen zwei Modelle: Sie kann ein Forum für Politiker, Beamte und Unternehmer sein, die beruflich mit Europa zu tun haben und deshalb das Netzwerk nutzen wollen, das solch ein Verein bieten kann. In diesem Fall täte die EUD gut daran, ihr programmatisches Profil flach zu halten, um niemanden zu vergrätzen. Ihre „Überparteilichkeit“ wäre vor allem die Suche nach einem größtmöglichen Europakonsens der politischen und gesellschaftlichen Eliten in Deutschland, womit sie sicher im Verborgenen manches Nützliche leisten könnte. Auf das föderalistische Pathos aber sollte sie dann ehrlicherweise verzichten: Die Europa-Union wäre die „Partei des kleineren Übels“ (wie Kurt Tucholsky einst die SPD nannte), aber nicht mehr die politische Bewegung, als die sie nach dem zweiten Weltkrieg gegründet wurde.
Die andere Option der EUD besteht darin, wieder zu einem starken zivilgesellschaftlichen Verband zu werden, der eine breite Öffentlichkeit anspricht, um möglichst viele Menschen von seinen Lösungen für unsere gemeinsamen Probleme zu überzeugen. Die Europa-Union könnte für den europäischen Föderalismus das sein, was Greenpeace für den Umweltschutz, Attac für die Finanzmarktkontrolle, Amnesty International für die Abschaffung der Todesstrafe und der Bund der Steuerzahler für die Reduzierung der Staatsausgaben ist. Ihre Aufgabe wäre es dann, Themen auf die politische Agenda zu setzen, Maximalforderungen zu formulieren, durch pointierte Aktionen Interesse zu wecken und Unterstützung zu mobilisieren. „Überparteilichkeit“ würde in diesem Fall bedeuten, die Parteien argumentativ vor sich her zu treiben: sich für keine vereinnahmen zu lassen, aber klare Kritik an ihnen zu üben, wo das notwendig ist. Die EUD müsste Debatten zuspitzen und würde damit womöglich mehr Widerspruch, aber auch mehr Begeisterung erzeugen. Vor allem aber müsste sie wieder selbst daran glauben, dass ein föderales Europa wünschenswert und möglich ist – und den Mut haben, das auch dann auszusprechen, wenn ein Teil der im Bundestag vertretenen Parteien es gerade nicht für opportun hält.
Übrigens
Wie der Titel dieses Blogs ["Der (europäische) Föderalist"] erahnen lässt, teile ich selbst die wichtigsten politischen Ziele der Europa-Union. Den Programmentwurf könnte ich wohl ohne Weiteres unterschreiben (andererseits: wer könnte das nicht?). Trotzdem bin ich bislang kein Mitglied des Verbands und kenne die innerverbandlichen Debatten und Dynamiken nur zum Teil. Meine Sicht ist eine Außenwahrnehmung. Wer mag, darf mich deshalb gerne eines Besseren belehren – oder sich fragen, weshalb die EUD in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, den ich von ihr bekommen habe.
Dieser Artikel erschien zuerst im "Der (europäische) Föderalist", ein Blog von Manuel Müller.
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