Denkanstöße zur Programmdebatte

Ein Blick von innen auf den kommenden Bundeskongress der JEF

, von  Marian Schreier

Denkanstöße zur Programmdebatte

Am kommenden Wochenende beschließt die JEF in Saarbrücken die Debatte um das neue Grundsatzprogramm bzw. politische Programm, wie es im jüngsten Entwurf heißt. Damit geht ein zweijähriger Prozess zu Ende, der 2010 – im Jahr eins der Eurokrise - auf dem Bundeskongress in Berlin seinen Anfang genommen hat. Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme.

Eines ist schon vor Verabschiedung des politischen Programms klar: Man hätte sich kaum einen passenderen Zeitpunkt für ein europapolitisches Grundsatzpapier wünschen können. Nicht zuletzt die Veröffentlichung der Streitschrift „Für Europa!“ von Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt hat die Diskussion um die zukünftige Gestalt Europas neuen Schwung gegeben.

Vier Diskussionsanstöße zum Endspurt der Programmdebatte.

Erstens, das politische Programm fasst gut zusammen wo wir hin wollen, schweigt aber in großen Teilen warum dies so ist. Gleich zu Beginn (109f.) heißt es: „Probleme wie der Klimawandel oder die Finanzkrise lassen sich von einzelnen Staaten nicht lösen. Deshalb brauchen wie die Vereinigten Staaten von Europa [VSE] (...)“. In eine ähnliche Stoßrichtung geht folgender Satz (37f.): „Denn nur die (VSE) ermöglichen demokratische Entscheidungen auf europäischer Ebene“. Ebenso manifestiert sich dies im Ausdruck „Schein-Souveränität einzelner Staaten“ (39f.). Man fragt sich: Ja, warum ist das so? Warum sind einzelne Staaten schein-souverän? Warum können nur die Vereinigten Staaten von Europa die angesprochenen Probleme lösen? Das Programm schweigt. Kurzum: Es fehlt eine Analyse des status quo. Warum sehen wir die Welt so wie wir sie sehen? Wie kommen wir zu diesen Schlussfolgerungen? Wäre im Titel nicht das Jahr 2012 – immerhin Jahr drei der Eurokrise – vermerkt, man wüsste nicht vor welchem Hintergrund das Programm formuliert wurde. Es ist losgelöst vom Kontext – ahistorisch. Warum nicht ein Absatz, der sich mit der Gegenwart auseinandersetzt, wie im Manifest von Ventotene? Dessen gesamtes erstes Kapitel, überschrieben mit „Die Gesellschaftskrise der Gegenwart“, ist nichts anderes als Gegenwartsdiagnose.

Inkonsistenzen

Neben dem Verzicht auf einen analytischen Teil, fallen einige Inkonsistenzen und Ungenauigkeiten im politischen Programm auf. Beispielsweise fordern wir ein einheitliches Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (165ff.). Dies ist nachvollziehbar, wenn man möchte das die Wahlen zum einen europaweit gleich sind und zum anderen alle Parlamentarier eine ähnliche demokratische Legitimation haben. Gleichzeitig möchten wir aber kein Verfahren benennen wie die Vertreter der Staatenkammer ausgewählt werden, sondern überlassen die Entscheidung den Mitgliedsstaaten (211ff.). Dies könnte zu Vertretern mit unterschiedlicher Legitimation führen: Die einen könnten beispielsweise direkt vom Volk gewählt werden, die anderen von der Exekutive bestimmt. Damit konterkarieren wir unsere berechtigte Forderung nach Einheitlichkeit.

Eine zweite Inkonsistenz liegt im Kompetenzzuschnitt der europäischen Regierung und des Gerichtshofs. Erst verlangen wir, dass die zu schaffende europäische Regierung die nötige Unabhängigkeit von den Mitgliedsstaaten hat, um die Einhaltung der Verfassung einfordern zu können (197ff.). Dies orientiert sich an der bisherigen Rolle der Kommission als Hüterin der Verträge. Später im Text schreiben wir die Kompetenz, über die Einhaltung der Verfassung zu wachen, dem Europäischen Gerichtshof zu, der aber auch gleichzeitig die Regierung kontrollieren soll, welche laut des vorhergegangenen Paragraphen wiederum auch Hüterin der Verfassung ist (219). Außerdem obliegt dem Europäischen Gerichtshof laut dem Programm nur die rechtliche Kontrolle des Parlaments und der Regierung (218). Warum übt er nicht auch Kontrolle über die Staatenkammer aus?

Neben den skizzierten Inkonsistenzen finden sich auch einige wenige sachliche Fehler. Wie Manuel Müller bereits angemerkt hat ist die Stimmgewichtung im Ministerrat (210) bereits abgeschafft. Ebenso wird der Kommissionspräsident schon heute vom Europäischen Parlament, auf Grundlage der Mehrheitsverhältnisse der letzten Europawahlen, gewählt (siehe Artikel 17 (7) Vertrag über die Europäische Union) und nicht nur bestätigt (195), auch wenn das Vorschlagsrecht noch bei den Mitgliedsstaaten liegt. Auch dass die Anzahl der Minister nicht an die Zahl der Mitgliedsstaaten gebunden sein sollte (202ff.) wurde mit dem Vertrag von Lissabon, der die Anzahl der Kommissare auf 2/3 der Zahl der Mitgliedsstaaten reduziert (202ff.), schon erreicht, wenn auch in der aktuellen Legislaturperiode noch nicht umgesetzt. Schließlich sollen die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit erhalten „drängende politische Themen mittels eines Bürgerbegehrens auf die Agenda der Institutionen setzen zu können“, die Hürden sollen dabei keinen „zu restriktiven Charakter“ haben (169ff.). Diese Passage suggeriert die Abwesenheit eines solchen Instruments auf europäischer Ebene, obwohl doch die kürzlich in Kraft getretene Europäische Bürgerinitiative (EB) doch genau diesen Zweck verfolgt. Auch ist der Charakter der EB keineswegs restriktiv, wenn dies damit glauben gemacht werden sollte, denn vergleichbare Instrumente, z.B. in der Schweiz, weisen ähnliche Quoren auf.

Orientierung am deutschen Beispiel

Die dritte inhaltliche Beobachtung bezieht sich auf die Herkunft unserer Vorschläge. Eine Vielzahl der Forderungen folgt nationalen Schablonen, genauer dem deutschen Vorbild. So soll das Wahlrecht „ähnlich dem personalisierten Verhältniswahlrecht (167) strukturiert sein. Auch die Wahl des Regierungschefs folgt dem deutschen Beispiel: Nur das Europäische Parlament und nicht die Staatenkammer soll die Spitze der europäischen Exekutive wählen. Ähnlich wie die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag. Dabei hätte man sich auch an anderen föderalistischen Staaten wie der Schweiz orientieren können, die ihren Bundesrat durch die vereinigte Bundesversammlung, bestehend aus Ständerat und Nationalrat, wählen. Dies gewinnt besondere Bedeutung, wenn man die Möglichkeit offen lässt die Staatenkammer direkt wählen zu lassen. Warum sollte eine direkt gewählte Staatenkammer nicht an der Wahl des europäischen Regierungschefs beteiligt werden?

Sprache des politischen Programms

Die letzte Beobachtung ist stilistischer Natur und stellt sich schon nach den ersten paar Seiten ein: Das politische Programm wird seinem Namen gerecht. Sprachlich muss das Dokument keinen Vergleich mit einem politikwissenschaftlichen Hauptseminar oder dem technokratischen Kommissionssprech scheuen. Beispielhaft dafür ist folgende unvollständige Aufzählung: „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“, „degressive Proportionalität“, „Wettbewerbsföderalismus“ oder „kollektive Sicherheitssysteme“. Wenn wir als Junge Europäer möchten, dass „politische Debatten regelmäßig in jedes Dorf getragen werden“ (186f.) und eine verständliche europäische Verfassung einfordern (29), dann müssen wir diesem Anspruch auch selbst gerecht werden. Man mag reflexartig einwenden, eine immer komplexer werdende Welt lasse sich nun einmal nur in komplexe Formulierungen fassen. Oder es handele sich gar um ein Anliegen nachrangiger Bedeutung, nicht mehr als die B-Note.

In einer bemerkenswerten Rede hat Mark Thompson, der neue CEO der New York Times, kürzlich eindrucksvoll geschildert wie sich unsere öffentliche Sprache verändert, beispielsweise durch den Verlust der Fähigkeit komplexe Sachverhalte in eine klare, konzise Sprache zu fassen. Zugegebenermaßen: Das politische Programm der JEF muss nicht unsere öffentliche Sprache ändern. Aber wir stehen uns und unserem pro-europäischem Anliegen selbst im Weg, wenn wir unser Programm nicht in eine verständliche Sprache kleiden.

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