Wer vor einiger Zeit noch an den bis zur Unsachlichkeit verstümmelten Auslassungen von Hans Magnus Enzensberger („Sanftes Monster Brüssel…“) verzweifelte oder wem die Töne von Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt in ihrem „Für Europa“ etwas zu schrill sind, dem sei der Essay von Robert Menasse „Der europäische Landbote“ sehr ans Herz gelegt. Man muss mit Menasse in seiner Kernaussage nicht einer Meinung sein (man kann sie sogar sehr kritisch beurteilen), aber er bietet in einer Zeit der „alternativlosen Entscheidungen“ eine Alternative an und liefert als einer der ganz wenigen eine visionäre Argumentation, mit der sich eine intensive Auseinandersetzung endlich einmal lohnt!
Die Kernbotschaft des Essays soll in aller Kürze wiedergegeben und kritisch gewürdigt werden – soweit das möglich ist, denn es finden sich zahlreiche wortgewaltige Passagen, die es eigentlich Wert sind, in voller Länge zitiert zu werden.
Der Nationalstaat ist das Problem
Diese lässt sich in einem Satz zusammenfassen: die derzeitige Krise sei keine Eurokrise, keine Finanzkrise und keine Staatsschuldenkrise; sie sei eine Krise der Konstruktion der EU, da die Mitgliedsstaaten mit Blick auf ihre sogenannten nationalen Interessen echte, gemeinschaftliche und gesamteuropäische Lösungen verhinderten.. Die Krise werde daher in Wirklichkeit von denen verschärft, die regelmäßig zu ihrer angeblichen Lösung in Brüssel auf Gipfeln zusammenkommen. „Das Problem ist also der Europäische Rat“ als Ausdruck der fortdauernden nationalstaatlichen Teilung Europas.
Und auch das von Presse und Wissenschaft oftmals zitierte Demokratiedefizit der Europäischen Union sei primär kein Defizit auf Unionsseite, sondern habe vielmehr seine Ursache in unserem Demokratieverständnis, das demokratische Legitimation allein im nationalstaatlichen Rahmen erkennt und anerkennt: „Es ist also nicht so, dass die Trias von Kommission, Rat und Parlament ein schwarzes Loch produziert, in dem das, was wir unter Demokratie verstehen, verschwindet, es ist umgekehrt so, dass das, was wir unter Demokratie verstehen, nämlich die bloß nationale Legitimation von Eliten, ein schwarzes Loch produziert, in dem Idee und Vernunftgrund des europäischen Projekts verschwinden […]“. Die national gewählten und legitimierten Eliten verhindern eine Demokratisierung der EU.
VSE? Kontraproduktiv!
Was also tun? Der Idee von den Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der USA, wie sie von einigen Politikern geäußert wurde, kann Menasse überhaupt nichts abgewinnen: er sieht darin die „völlige Verkehrung der Grundidee des europäischen Projekts […], das völlige Gegenteil dessen, wofür Europa heute steht: Erweiterung durch Verhandlungen und Einigung auf gemeinsame Werte, Vereinigung als Friedensprojekt, Auflösung der Nationen und nachnationale Gemeinschaft.“
Menasse dagegen hat ein anderes, radikaleres Rezept: Die europäischen Bürger müssten sich rückbesinnen auf das ursprüngliche Motiv der europäischen Einigung: die Überwindung eines in Nationalstaaten geteilten Europas. Der erste Schritt auf diesem Weg sei daher die Abschaffung des Rats: „Politisches Engagement, demokratischer Kampf, ja, und vernünftigerweise die Energie des Wurbürgertums müssen sich jetzt darauf richten: auf die Abschaffung des Rats. Der Rat muss weg! Ersatzlos.“ Und mit ihm die Nationalstaaten, die ohnehin eine willkürliche Konstruktion der europäischen Geschichte seien. „Die regionale Identität ist die Wurzel der europäischen [und] Europa ist in Wahrheit ein Europa der Regionen“.
Für das Europa der Regionen
Vor dem Hintergrund dieser Krisenanalyse und –interpretation gewinnt der von Menasse für seinen Essay gewählte Titel seine eigentliche und kraftvolle Aussage: wie Georg Büchner in seinem „Hessischen Landboten“ die damalige staatliche Ordnung Europas angreift und zu deren Überwindung aufruft, propagiert auch Menasse die „demokratischen Revolutionierung Europas“. Krieg den Nationen, Friede den Regionen, könnte man mit Menasse in Anlehnung an Büchner sagen. Seien die Nationen erst einmal beseitigt, könne ein in Regionen gegliedertes Europa mit dem Europäischen Parlament als Volksvertretung und der Kommission als Regierung eine echte, europäische parlamentarische „nachnationale“ Demokratie entstehen.
Am Ende des Essays bleibt der Leser von der gezeichneten Vision und den wortgewaltigen Ausführungen beeindruckt, aber leider auch etwas ratlos zurück. Er nimmt zwar zufrieden zur Kenntnis, dass ein kritischer Schriftsteller im Laufe der Recherche für diesen Essay zum glühenden Föderalisten wurde (in der Tradition von Henrik Brugmans und Denis de Rougement, deren sogenannte integralföderalistischen Konzepte vor allem in den Anfangsjahren der föderalistischen Bewegungen großen Einfluss hatten). Aber hat er uns allen Ernstes gerade erzählt, dass die Lösung der Krise, die aus ökonomischer Perspektive nun einmal eine Finanz- und in deren Folge eine Verschuldungskrise der Staaten ist, in der Abschaffung der Nationalstaaten besteht? Wo wir es in Deutschland womöglich nicht einmal hinbekommen würden, das Grundgesetz so zu modifizieren, dass es weiteren notwendigen Integrationsschritten nicht im Wege steht?
Nur theoretische Sprengkaft
Intellektuell besitzt der Essay daher große Sprengkraft, aber seine politikpraktische Relevanz hält sich arg in Grenzen.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass dieser Essay ein wichtiger Beitrag in den derzeitigen Debatten ist, da er nicht in den nebelverhangenen Tälern der pressetauglichen Schlagworte (Schuldenunion, Eurobonds, Exempel statuieren etc.) und alternativlosen Entscheidungen verharrt, sondern den Blick hebt und die entscheidende Frage stellt: wohin wollen wir eigentlich?
Vor allem aber ist er auch eine eindrückliche Mahnung, dass wir diese Frage jetzt klären und unsere Zukunft jetzt aktiv gestalten müssen: „Entweder wird Europa einmal mehr, aber diesmal friedlich, die Avantgarde der Welt, oder Europa wird definitiv vor der Welt beweisen, dass bleibende Lehren aus der Geschichte nicht gezogen werden können, und dass es keinen menschengerechten Weg gibt, um schöne Utopien ins Recht der Wirklichkeit zu setzen. Und wenn, in diesem Fall, dann die politischen Untergangster wieder vor rauchenden Trümmern stehen und betroffen stammeln: ‚Dies soll nie wieder geschehen können!‘, dann wird Hohngelächter aus den langen dunklen Korridoren der Geschichte dröhnen.“
Bestellnummer: 978-3-552-05616-9 | Verlag: Zsolnay Verlag | Preis: 12,50 €
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