Patientenmobilität in der EU
Sich innerhalb der EU behandeln lassen, egal wo und wann - das soll ab Ende 2013 möglich sein. Auch müssen die Mitgliedstaaten bis dahin Kontaktstellen einrichten, bei denen sich Bürgerinnen und Bürger über eine mögliche Gesundheitsversorgung im Ausland informieren können. Diese Richtlinie war nötig geworden, nachdem der Europäische Gerichtshof in mehreren Entscheidungen festlegte, dass sich die passive Dienstleistungsfreiheit auch auf den Gesundheitssektor erstreckt. Damit haben Patienten ein Recht auf medizinische Leistungen im gesamten EU-Raum.
Ursprünglich durften EU-Bürger nicht ohne eine Genehmigung ihres nationalen Gesundheitsdienstes in einem anderen Mitgliedstaat medizinisch versorgt werden, auch wenn es seit 2003 eine Europäische Krankenversicherungskarte gibt, die in allen 27 EU-Ländern gültig ist. Eine Ausnahme gilt bisher nur für Arbeitnehmer, die in einem fremden EU-Mitgliedstaat arbeiten. Sie haben bei Erkrankung ein Recht auf medizinische Behandlung bei anschließender Kostenerstattung ihrer Krankenkassen. Durch diese Beschränkungen sollte dem Medizintourismus eigentlich vorgebeugt werden.
Die ökonomische Verknüpfung der Gesundheitspolitik
Augenscheinlich sind die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung im Ausland und der damit verbundene Abbau behördlicher Hindernisse durch die EU positiv zu bewerten. Tatsächlich stehen Auslandsbehandlungen aber Sprach- und kulturelle Barrieren sowie Reisekosten im Weg. Ferner braucht der Kranke viel Zeit, um einen qualifizierten Arzt im Ausland zu finden. Dadurch eignen sich zum einen nur bestimmte Erkrankungen für eine Auslandsbehandlung und andererseits haben nicht alle Patienten die nötigen Mittel, jene Hürden zu überwinden.
Kritisch ist zudem zweierlei. Zum einen die enge Verknüpfung von EU-Marktfreiheiten und Gesundheitspolitik, denn der Binnenmarkt dient der möglichst optimalen Verteilung von Waren und Dienstleistungen – unter streng ökonomischen Gesichtspunkten. Zum anderen die hohe sozioökonomische Ungleichheit der Bevölkerung. Daraus folgt, dass diejenigen in den Genuss der besten Gesundheitsvorsorge kommen, die Willens und in der Lage sind, sie zu bezahlen sowie kulturelle Barrieren überwinden können. Die Frage ist, ob dies mit den Grundwerten unserer Gesellschaft vereinbar ist?
Steuerungspolitische Herausforderungen
Das volle Ausmaß der Belastung für die nationalen Gesundheitssysteme ist noch nicht absehbar. Eine Herausforderung stellen die steuerungspolitischen Asymmetrien im Gesundheitssektor aber allemal dar. Mitgliedstaaten haben für die nationale Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates einzustehen, wohingegen die Verteilung von medizinischen Gütern, Angestellten und Patienten ihrer Macht weitgehend entzogen ist.
So sind die Strukturen im Gesundheitssektor überwiegend öffentlich finanziert. Werden sie von Bürgern anderer Mitgliedsstaaten in Anspruch genommen, erhalten diese eine Leistung, die nicht für sie gedacht war. So können beispielsweise niederländische Rentner nach Polen ziehen, die sich in ihrem Heimatland kein Altersheim leisten können. Dadurch werden die Kapazitäten für die Bevölkerung des Ziellandes beschnitten, worunter die medizinische Grundversorgung leidet.
Andererseits kann es auch zu einer Abwanderung des medizinischen Personals kommen. So leidet gerade Polen unter einem gravierenden Ärztemangel, da diese in andere EU-Mitgliedstaaten abwandern. Die Folgen sind eine Überalterung des medizinischen Personals und eine eingeschränkte medizinische Grundversorgung.
Was ist zu tun?
Damit die Union im Gesundheitssektor gerechter wird, sollte sie diesen nicht mehr wirtschaftspolitisch, sondern als einen zentralen Bestandteil des Wohlfahrtsstaates behandeln. Wer ein EU-Gesundheitsmodell will, der muss die Gesundheitspolitik aus dem Binnenmarkt herauslösen und eine hinreichende sozialpolitische Koordinierung sicherstellen.
Das heißt nicht, dass eine Vergemeinschaftung der Gesundheitspolitik die einzige Lösung wäre. Ein föderales Europa ist mit der Vorstellung national-staatlicher Gesundheitspolitik durchaus vereinbar, wenn gemeinsame Leitplanken auf europäischer Ebene erarbeitet werden. In ihrer gegenwärtigen Form ist die EU-Gesundheitspolitik aber kaum mehr tragbar.
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