Ein Semester Ungarn: zwischen Erasmus, Nationalismus und Antisemitismus

, von  Leonie Martin

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Ein Semester Ungarn: zwischen Erasmus, Nationalismus und Antisemitismus
Demonstration in Budapest Photo: Bestimmte Rechte vorbehalten von habeebee

Der Beginn: undurchschaubare Medien

Das umstrittene Mediengesetz war schon längst in Kraft als ich Anfang September in Budapest ankam und mich einlebte. Ich werde die Nachrichten eh nicht verstehen, dachte ich mir, so ganz ohne Sprachkentnisse. Im Nachhinein fiel uns Erasmus-Studenten auf, dass wir alle so dachten, aber das dies ganz und gar nicht stimmte: Auch wenn die Sprache schwer zu verstehen ist, vermitteln die Gestik der Sprecher sowie Bilder in den Fernsehen doch eine gewisse merkwürdige Atmosphäre. Im Vergleich zu den deutsch- und englischsprachige Seiten fiel auch auf, dass bestimmte Nachrichten, die eigentlich krass waren, manchmal fehlten oder total anders präsentiert worden waren.

Generell empfand ich Ungarn als ein wirklich schönes Land. Ich kann auch jedem nur empfehlen, es sich selbst anzuschauen und die Kultur zu genießen. Aber mit jedem Tag, den ich da war, Sachen erlebte oder über sie diskutierte, wuchs ein Gefühl heran, welches teils einfach nur merkwürdig und teils einer Machtlosigkeit ähnelte.

Die Nationalisten marschieren wieder

Im Oktober erfuhr ich erst über die Tagesschau, dass ein Theater direkt um die Ecke bei mir einen neuen Intendanten bekommen soll. Das besondere an dieser Meldung: er ist rechts-radikal und wird mit der Jobbik in Verbindung gebracht, eine Partei deren Name sowas wie „die Rechteren“ bedeutet. Er will aufhören mit der „krankhaft liberalen Hegomonie“, schreibt die Tagesschau.

Dabei muss man wissen, dass „liberal“ heutzutage in Ungarn ein Schimpfwort für Juden ist. Ein Ziel des Intendanten ist die Umbenennung des Theaters in „Hátorszag“, das „Hinterland“ bedeutet – das Theater grenzt übrigens an das alte jüdische Viertel. Am nächsten Morgen auf dem Weg zur U-Bahnstation passiere ich das Theater und betrachtete es genauer. Herrscht dort nun ein Rechtsradikaler? Eine Woche später hängen deutlich mehr ungarische Fahnen am Gebäude.

Tage der Revolution: besser zuhause bleiben.

Ende Oktober erinnerte sich Ungarn an die Revolution in 1956 gegen die Sowjetunion, die zehn Tage lang Budapest in eine bürgerkriegsähnliche Szenenerie verwandelt hatte. Damals organisierten Studenten eine Großdemonstration, um Meinungsfreiheit und mehr Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu fordern. Dem Aufruf folgten 200.000 Menschen. In den folgenden Tagen wurden die sowjetischen Panzer clever ausgetrickst, was aber nur dazu führte, dass noch mehr Truppen geschickt wurden, die anfingen auf die Demonstranten zu schießen. Es starben ungefähr 2.500 Ungarn und 750 sowjetische Soldaten. Ungarn blieb daraufhin ein Teil des Warschauer Paktes und jegliche Opposition wurde unterdrückt. Verglichen mit dem strengen Rákosi-Regime vorher, erlangte Ungarn allerdings ein wenig mehr Freiheit. Dennoch war die Revolution ein Tabuthema selbst innerhalb von Familien und viele fingen erst nach Ende des kalten Krieges an darüber zu reden.

Unter den Erasmus-Studenten hieß es, man solle nach 19 Uhr nicht mehr herausgehen, wenn es denn nicht unbedingt notwendig sei. Die Menschen wären wohl recht aufgedreht an den Tagen und eine pro-demokratische Demonstration wäre vor ein paar Jahren ausgeartet. Man erwarte an dem ersten Tag der Gedenktage für 1956 auch eine solche Demonstration und könne nicht einschätzen, wie sie enden würde. Später zeigte sich, dass die Demonstration friedlich ablief, jedenfalls soweit ich weiß.

Allerdings umgab ein Nebel von Extremen den gesamten Tag. Rechtsradikale liefen fröhlich mit ihren Fahnen über der Schulter im Zweier-Marsch quer durch die Stadt zu ihrem Demonstrationsort.

Während die Nationalisten also den Aufstand feiern, wird er von anderen als Lüge bezeichnet. Bei einer speziellen 1956-Tour durch die Stadt werden wir plötzlich von betrunkenen Ungarn in unserem Alter angesprochen. Sie bestätigen genau das, was der Touristenführer zuvor gesagt hatte: dass viele Menschen in der Schule gelernt haben, dass der Aufstand nur eine Lüge gewesen sei. Die Sowjets hätten die Ungarn gerettet.

Der betrunkene Ungar folgt uns durch die Stadt, und kommentiert unsere Tour regelmäßig mit „THAT’S A LIE. SOVIETS HELPED!“, bis wir schließlich an der Fidesz-Demonstration vorbei kommen, wo er begeistert in die Masse rennt und sich den Rechten anschließt. Welch verrückte Welt.

Obdachlose werden zu Kriminellen

Anfang Dezember wurde dann das Obdachlosengesetz eingeführt, welches Obdachlosigkeit in Budapest sowie in ganz Ungarn verbietet. Gleichzeitig warnten Kritiker davor, es gäbe zu wenig Plätze, um die Obdachlosen aufzunehmen. Ab Dezember liefen dennoch jeweils vier breitschultrige Polizisten die U-Bahn ab. Wenn sie einen Obdachlosen erblickten, zückten sie ihre Schlagstöcke und näherten sich langsam dem „Straftäter“. Allerdings habe ich niemals gesehen, dass das Bußgeld von umgerechnet 600 Euro verlangt wurde.

Ich gebe eigentlich nie gerne Geld auf der Straße, auch aus Gründen eines knappen Studentenbudgets, aber in einer Art Mini-Rebellion fing ich an, immer ein paar Geldmünzen in meiner Hosentasche zu haben:100 Forint, 200 Forint, ungefähr 30 bis 60 Cent, um jeden Tag einem Obdachlosen etwas zuzustecken.

Die Universität: der Ort für offene Worte

Die Kurse, die ich belegt hatte, waren immer wieder ein guter Plattform, um solche Beobachtungen anzusprechen und sich von den jeweilige Professoren den Sachstand erklären zu lassen. Ein Beispiel: In der letzten Uni-Stunde erzählt ein Amerikaner, dass in einem Club ein Ungar direkt vor ihm durch Drogenmissbrauch gestorben sei. Er habe allerdings nichts darüber lesen können, obwohl er sich extra einen ungarischen Freund zur Seite genommen habe und mit ihm die Nachrichten durchgegangen sei. Der Professor schweigt erst, hört sich unsere Bedenken an und erzählt dann, dass nur ein bestimmter Anteil der Nachrichten Verbrechen behandeln darf. Das könnte die Erklärung sein.

Eine schwedisch-ungarische Kommilitonin greift das beklemmende Gefühl auf, welches überall herrscht, und erzählt, wie sie am vorigen Wochenende Bus gefahren sei. Die Miliz sei eingestiegen und habe jeden Buspassagier gefragt, ob er jüdisch sei. Das machen sie öfters, sagt sie. „Und dann?“, fragen wir. Ja dann, sagt sie, dann schmeißen sie die Juden aus dem Bus.

Eine reguläre israelische Studentin erzählte davon, dass „zsidó“, Jude, wieder ein Schimpfwort sei. Sie wäre vor kurzem von Jobbik-Parteimitgliedern auf der Straße beschimpft worden. Warum, das weiß sie auch nicht. „Du bist so eine Jüdin!“, sei ihr an den Kopf geworfen worden. Stolz berichtet sie von ihrer Antwort: „Ja, das bin ich“ habe sie erwidert und sei weggegangen.

Geschichten wie diese erinnern mich sehr an die grausamen Berichte aus der Nazi-Zeit, wie man sie aus dem Geschichtsunterricht kennt. Ich habe sehr großen Respekt vor Leuten, die solchem Druck vor Ort Parole bieten.

Die neue Verfassung kommt

Der zweite Januar war ein Tag, an dem die Stadt sich wieder merkwürdig anfühlte. Die Prachtstraße Andrassy ut ist abgesperrt und viele Polizisten bewachen die beeindruckende Staatsoper. Auf Nachfrage in der Oper erfahre ich, dass an dem Abend die neue Verfassung just in diesem Ort unterschrieben werden soll. Die Kassiererin schwärmt von den wichtigen Politikern, die alle kommen werden und von den neuen nationalen Gemälde, die mit der Verfassung als Zeichen der nationalen Identität angefertigt worden sind.

Im Verlaufe des Tages fällt mir dann auf, dass die ganze Straße unter meinem Fenster mit Polizeiwagen gefüllt ist. Die Motoren laufen, die Polizisten sind gewappnet und konzentriert. Die Oppositionsdemonstration solle direkt vor der Oper stattfinden und die Polizisten die Demonstranten von der Oper, der Verfassung und den Politikern fernhalten. Mit einer Freundin nehme ich an der Demonstration teil. Wir drängen uns zwischen die Leute – es sind viele. Anfangs können wir uns nur mit unserem Supermarkt-Ungarisch weiterhelfen, aber ein begeisterter Ungar hilft uns und übersetzt uns bis zum Ende der Demonstration alle Reden auf Deutsch und Englisch.

Später erfahren wir auch, dass das Staatsfernsehen sich nicht die Mühe gemacht hat, alle Demonstranten aufzuzeichnen. Stattdessen zeigt es nur eine Einstellung von vor der Demo, die nur eine Handvoll Menschen vor der Oper darstellt.

Ungarns Taktik: nach außen der nette Nachbar

Zwei Wochen später sitze ich in meiner Budapester Küche und verfolge gespannt die Diskussion im Europäischen Parlament mit Viktor Orbán, dem Ungarischen Ministerpräsidenten. Wie werden die Parlamentarier sich verhalten?

Für mich ist der Fall Ungarn die Gelegenheit für die EU sich zu entscheiden: Ist es nur eine Wirtschaftsunion oder aber auch eine Völkergemeinschaft, die sich auf Werte wie Meinungsfreiheit beruht? Auffallend war die ungarische Argumentation: als erster europäischer Staat nehme man Minoritätsrechte in die Verfassung auf. Genau dieselbe Strategie konnte man auch beobachten, als Ungarn die Ratspräsidentschaft innehatte: Während die Regierung im Land selber das Mediengesetz einführte, arbeitete sie in der EU an der sogenannten Roma-Strategie. Aussen hui, innen pfui.

Ich denke noch über diese Erkenntnis nach, da steht EU-Abgeordneter Szájer auf und verteidigt die neue Verfassung und Ungarn: „Juden haben keine Angst vor Antisemitismus in Ungarn!“ Mir wird spontan übel.

Demonstrationshinweis

Die JEF sieht Europas Werte in Gefahr. Deshalb wollen wir dem Botschafter Ungarns am 24. März ein gemeinsames Memorandum der Europa-Union Deutschland, der Jungen Europäischen Föderalisten und von Mehr Demokratie überreichen. Wir appellieren an Ungarn, Mitglied der europäischen Wertegemeinschaft zu bleiben! Die Demonstration beginnt am 24. März um 11.00 Uhr in Berlin, in den Ministergärten 6, und führt zur Botschaft Ungarns, Unter den Linden 76. Mehr zur Demonstration.
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