„Eine Koalition ist kein Schrecken”

, von  Federico Permutti

„Eine Koalition ist kein Schrecken”
Nach einem zwei Monate langen Patt hat der wiedergewählte italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano nun Enrico Letta mi der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Foto © Presidenza della Repubblica

Nach einem zwei Monate langen Patt infolge der Parlamentswahlen, die das Land dreiteilten, ist es scheinbar soweit: Italien wird voraussichtlich Anfang nächster Woche eine neue Regierung haben. Der vor wenigen Tagen wiedergewählte Staatspräsident Giorgio Napolitano hat Enrico Letta, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Demokratischen Partei, das Mandat erteilt. Vielleicht wird dies das Ende einer sogar für Italien außergewöhnlichen Situation bedeuten. Ob der Sozialdemokrat und sein Kabinett diese überwinden werden, steht jedoch noch offen, denn die Ursachen der politischen Krise in Italien sind tief verwurzelt.

Letta und seine Minister werden sich bereits am kommenden Montag dem Vertrauensvotum der Abgeordneten und Senatoren stellen. Dabei war der stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Partei (PD) nie ein Favorit für das Amt des Regierungschefs. Mit 46 Jahren ist Letta jedoch kein unbekanntes Gesicht: Er war unter anderem schon italienischer Europaminister, Industrieminister, EU-Abgeordneter und Staatssekretär des Ministerpräsidenten im zweiten Kabinett Romano Prodi von 2006 bis 2008. Nun soll er Italien aus der politischen Krise führen, in der sich das Land seit den Parlamentswahlen im vergangenen Februar befindet. Zwar konnte die Mitte-links-Koalition unter Führung von Pier Luigi Bersani etwas mehr als 29,5 Prozent der Stimmen für sich gewinnen. Doch Silvio Berlusconis Mitte-rechts-Bündnis und die von dem Komiker Beppe Grillo geführte Protestbewegung „5 Sterne“ kamen auf jeweils 29 und 25 Prozent. Der gesetzliche Mehrheitszuschlag weist der führenden Gruppierung, in diesem Fall also Bersanis Koalition, in der Abgeordnetenkammer, der unteren Kammer des italienischen Parlaments, automatisch eine deutliche Mehrheit zu. Im Senat ist dies aber nicht der Fall. Da beide Kammern in der Gesetzgebung gleichberechtigt sind, kam es schnell zu einem Stillstand. Neuwahlen wären der einzige Ausweg gewesen. Staatspräsident Giorgio Napolitano befand sich jedoch im letzten Halbjahr seiner Amtszeit: Die Verfassung verbietet es dem Staatsoberhaupt, in diesem Zeitraum das Parlament aufzulösen. Als knapper Sieger wurde zunächst Pierluigi Bersani das Mandat erteilt, ein Kabinett zu bilden. Dieser Versuch scheiterte jedoch innerhalb weniger Tagen.

Eine seltsame Koalition, um den Ausweg aus der Krise zu finden

Das Regierungsprogramm des Kabinetts Letta wird an den Vorschlägen anknüpfen, die Anfang April von zwei kleinen Gruppen von Persönlichkeiten aus den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften formuliert wurden. Diese Gruppen wurden nach Bersanis erfolglosem Versuch von Giorgio Napolitano beauftragt. Zu den wichtigsten Punkten der Dokumente zählen die Reform des umstrittenen Wahlgesetzes, die Reduzierung der Zahl der Parlamentarier und die Abschaffung der staatlichen Parteifinanzierung. Diese Ziele will Enrico Letta nun erreichen, indem er eine italienische „Große Koalition“ zusammenbringt. An diesem Abenteuer sollen die Partei der Mitte des amtierenden Ministerpräsidenten Mario Monti und Berlusconis konservative Partei („Volk der Freiheit“ - PDL) teilnehmen. Letztere könnte sich jedoch als problematischer Partner erweisen: Bereits in der Verhandlungsphase mahnte Berlusconi, dass die Abschaffung der von Monti eingeführten Grundsteuer auf das erste Haus Voraussetzung für seine Zusage sei. Da diese aber eine Verminderung der Staatseinnahmen um vier Milliarden Euro bedeuten würde, ist es zumindest fraglich, ob das realisierbar ist. Auch könnte es zu Streitigkeiten um die Ministerposten kommen, da das PDL wichtige Ressorts wie etwa Wirtschaft, Justiz, Auswärtiges und Arbeit für sich beansprucht. Besonders im Fall des Wirtschaftsministeriums würde Berlusconi gerne einen seiner Männer ins Amt hieven. Solche Konflikte, dessen Ursachen im tief verwurzelten Antagonismus zwischen italienischen Parteien liegen, könnten eine große Hürde darstellen. Wenn es um das Thema Europa geht, sind sich Letta und Berlusconi aber einig: Es soll nicht bei der gegenwärtigen Sparpolitik bleiben. Vielmehr will Letta in Europa die „italienische Fahne“ hissen und sich für einen Wachstumspakt einsetzen. Zwar sei es dringend nötig, die Staatsausgaben zu reduzieren, sagt Berlusconi. Angesichts der aktuellen Rezession seien jedoch weder der Fiskalpakt noch die Drei-Prozent-Grenze des Stabilitätspakts einzuhalten. EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung Olli Rehn zeigte sich gegenüber Lettas Vorhaben offen: Eine etwas abgeschwächte Fiskalpolitik sei nun vertretbar. Weniger optimistisch ist hingegen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der sich gegen ein Ende der Sparpolitik aussprach. Wie es aussieht, wird der beauftragte Ministerpräsident Letta also an zwei kritischen Fronten kämpfen müssen: Auf der einen Seite gegen seine Partner in dieser seltsamen Koalition, auf der anderen gegen einige Stimmen in Europa. Trotz dieser verfahrenen Situation kann Italien froh sein, überhaupt wieder eine Regierung zu bekommen.

Eine Präsidentenwahl, wie es sie noch nie gab

Nach Bersanis erfolglosem Versuch, eine Regierung zu bilden, beschloss man, bis zur ohnehin ausstehenden Wahl des neuen Staatsoberhaupts zu warten. Diese wurde schließlich für den 18. April angekündigt. Eine Wiederwahl Napolitanos kam eigentlich nicht infrage: Obwohl die Verfassung diese Option nicht verbietet, ist es gewohnheitsrechtlich verankert, dass der Staatspräsident sich nach dem Ende seines siebenjährigen Mandats nicht erneut zur Wahl stellt. Auch wies Napolitano darauf hin, er sei mit 87 nicht in der Lage, für eine zweite Amtszeit anzutreten. Nun galt es, einen geeigneten Nachfolger zu finden, auf den sich alle einigen konnten. Was folgte, war ein beispielloses Debakel der italienischen Politik. Der sowohl von Bersani als auch von Berlusconi zum gemeinsamen Kandidaten ernannte Franco Marini, ehemaliger Senatspräsident und Gewerkschafter, konnte beim ersten Wahlgang mit 520 Stimmen die notwendige Zweidrittelmehrheit (672 von 1007) nicht erreichen. Die nächsten zwei Wahlgänge änderten daran nichts. Innerhalb weniger Stunden einigte sich das Mitte-links-Bündnis nun auf den ehemaligen Ministerpräsidenten Romano Prodi als neuen Spitzenkandidaten. Dieser wäre zweifellos eine Garantie für Italiens europäisches Engagement gewesen, war er doch zwischen 1999 und 2004 Präsident der Europäischen Kommission. Innenpolitisch ist er jedoch eine eher umstrittene Persönlichkeit, nicht nur weil er als Erzfeind Berlusconis gilt. Da die Mitte-links-Koalition über insgesamt 496 Sitze verfügte, und ab der vierten Wahlrunde die absolute Mehrheit reicht, also 504 Stimmen, rechnete man mit einer reibungslosen Wahl. Doch dann geschah das Unvorstellbare: Prodi verfehlte das Quorum um mehr als 100 Stimmen. Dies löste innerhalb der Koalition eine Krise ohnegleichen aus. Die gesamte Parteiführung kündigte ihren Rücktritt an. Die Situation blieb vollkommen aussichtslos. Entgegen aller Erwartung kündigte letztendlich Giorgio Napolitano an, sich wieder zur Wahl zu stellen, nachdem fast alle Parteichefs ihn darum gebeten hatten. Als Voraussetzung nannte er angeblich die Garantie, dass alle Parteien bei der Bildung der neuen Regierung kooperieren würden. Am 20. April wurde erstmals in der Geschichte der Republik Italien der amtierende Staatspräsident wiedergewählt. Die großen Parteien jubelten. Grillo und seine Anhänger sprachen hingegen von einem Putsch.

Vom Niedergang der politischen Verantwortung

Bereits am 22. April legte der Präsident den Amtseid ab. In seiner Rede übte Napolitano heftige Kritik an dem gesamten italienischen Parteisystem. Er warf den politischen Kräften eine kollektive Verantwortungslosigkeit auf Kosten Italiens vor. Des Weiteren beklagte der Präsident das taktische Agieren, die Instrumentalisierung, der Egoismus und die Langsamkeit der Parteien. Dies habe zu einer Sterilität der politischen Debatte geführt. Eine geradezu „unverzeihliche“ Folge dieser Verantwortungslosigkeit sei zudem die Tatsache, dass es trotz wiederholter Aufrufe immer noch nicht gelungen ist, das hochumstrittene Wahlgesetz zu reformieren. Außergewöhnlich direkt und belehrend wirkte der Staatspräsident, besonders als er drohte, die „Konsequenzen zu ziehen“, falls die Parteien nicht reagieren würden. Sehr deutlich wies er auch auf die Notwendigkeit einer Kooperation hin, eventuell in Form eines großen Bündnisses: „Eine Koalition ist kein Schrecken“. In Bezug auf Italiens Rolle in der EU unterstrich der Präsident erneut, dass eine verstärkte Kooperation im Zeichen der Solidarität vonnöten sei. Für die EU ist Napolitano ein Glücksfall, für Italien hingegen Ausdruck kollektiven politischen Versagens. Kaum zu fassen ist, dass es zwei Monate und eine beispiellose Präsidentenwahl gebraucht hat, um dem Land eine neue Regierung zu geben. Den absoluten Tiefpunkt hat man jedoch anlässlich der Vereidigung des Staatsoberhaupts erreicht. Die Rede des Präsidenten wurde genau 31 Mal von tosendem Beifall unterbrochen. Napolitano warnte: Der Applaus sollte kein „Ausdruck von Selbstzufriedenheit“ sein. Doch sein expliziter Hinweis wurde ignoriert. Die Parlamentarier beklatschten ihn weiter. Für die desaströse Lage scheinen sie auch weiterhin keine Verantwortung übernehmen zu wollen.

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