Einwanderung übers Mittelmeer: Mare Nostrum, Mare Mortis?

, von  Frank Stadelmaier

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Einwanderung übers Mittelmeer: Mare Nostrum, Mare Mortis?

Jedes Jahr sterben hunderte, wenn nicht tausende Menschen im Mittelmeer. Ertrunken. Europa schließt die Augen oder schlimmer. Wie steht es um unsere Solidarität?

Sie stammen aus Afrika oder dem Mittleren Osten, aus Afghanistan, Somalia oder Mali. Sie sind Mitglieder von Großfamilien oder haben ihre Angehörigen verloren, auf jeden Fall gehören sie zu den Ärmsten dieser Welt. Die Quelle ihres Elends sind Kriege, Hungersnöte oder einfach das Pech, arm geboren zu sein in Gesellschaften, die keine Möglichkeiten bieten, diese Armut zu überwinden. Wir wissen in der Regel sehr wenig von ihnen, außer: es sind unsere Mitmenschen.

Der lange Weg nach Europa

Sie haben sich entschieden, eine enorme Gefahr auf sich zu nehmen, das Geld auszugeben, das sie haben, das vielleicht eine ganze Familie aufgebracht hat für diese Reise durch die Wüste und übers Meer. Europa ist für sie Hoffnung, Hoffnung der Familien, die ihre Söhne aussenden, damit sie Geld zurücksenden, wenn alles gut geht. Aber es geht nicht immer alles gut. Sie haben oft schon die Sahara überlebt, zu Fuß, und sie haben die Schlepper überlebt, denen ihr Leben nichts wert ist, und die immer wieder ein bisschen mehr Geld einfordern, und ein bisschen mehr, und ein bisschen mehr, und ein bisschen mehr. Das letzte Handgeld zahlt man ihnen, bevor es in winzigen Booten ans andere Ufer des Mittelmeers gehen soll: dann sind sie allein unter Migranten.

Sie sterben - wir helfen ihnen dabei

Ein europäisches Schiff, ein italienisches vielleicht, aber das ist nicht wichtig, nähert sich. Die Migranten sind erleichtert, denn die Frischwasservorräte fingen an zur Neige zu gehen, und außerdem ist das Meer manchmal gefährlich unruhig. Die Europäer weisen sie zurück. Einfach so. Alle zusammen. Ohne sie zu befragen. Alle gleich, alle dem Meer. Asyl? Unbekannt. Humanismus? Jaja, dies philosophische Konzept. Nächstenliebe? Lächerlich. Genfer Konvention, Menschenrechte, sei’s drum. Die Menschen auf den winzigen Booten können auf uns nicht zählen, denn wir mögen große Worte, sicherlich, aber wir lassen sie sterben, die Träger der Menschenrechte, ertrunken vor unseren Augen.

Einige Beispiele zur Veranschaulichung

Wenn diese Beschuldigungen übertrieben erscheinen mögen, sie sind es kaum. Die europäische Grenzagentur Frontex sieht sich der Anklage mehrerer prominenter NGOs ausgesetzt, Schiffe auf hoher See zurückgewiesen zu haben, ohne jegliche individuelle Behandlung in Hinsicht auf den Asylbewerberstatus, ein Grundrecht, das durch die Genfer Konvention und die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert ist. Einige dieser Schiffe hatten bereits Leichen an Bord. Die Verantwortlichen der Cap Anamur II, die Migranten aus Seenot gerettet hatten, sind durch die italienischen Gerichte Anfang Oktober 2009 von der Anklage wegen „Menschenhandels“ freigesprochen worden, doch hatten sie Anrecht auf den Angeklagtenstatus während fünf langer Jahre. Es gibt Fälle, in denen arabische Fischer ihre Lizenz verloren, nachdem sie Migranten vor dem Ertrinken gerettet haben. Dieses letzte Beispiel zeugt von besonderer Perfidie: nicht nur sind sich die Behörden beider Seiten des Mittelmeers stillschweigend einig, die boat people des Mittelmeers ertrinken zu lassen, sondern bestraft man darüber hinaus diejenigen, die helfen, indem man ihnen den Lebensunterhalt entzieht. Dies dient als Beispiel zur Abschreckung...

Den Problemen auf den Grund gehen - aber auch Leben retten

Es ist schwer, von Migration zu sprechen, ohne die Probleme der Integration anzusprechen, sowie die Probleme in den Herkunftsregionen der Migranten. Tatsächlich ließen sich theoretisch Lösungen in den Herkunftsregionen finden, doch unsere Misserfolge in der Entwicklungshilfe und bei friedenserhaltenden Maßnahmen lehren uns, dass diese Arbeit längst nicht erledigt ist: ein Ende der Migration ist also nicht absehbar. Was die Probleme der Integration der Migranten in unsere Gesellschaften angeht, so weiß die Politik in Europa daraus populistischen Profit zu ziehen, aber sie weiß umso weniger, wie die Probleme behoben werden könnten - zulasten der Migranten wie der Gesellschaften. Integration, so sie diesen Namen tragen mag, sieht häufig so aus, dass das Überleben des Mittelmeers nur der Anfang eines langen individuellen Kampfes gegen Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Armut ist. Die Symptome misslungener Integration lassen uns keine Ruhe, die pri mären Opfer jedoch finden sich häufig selbst kriminalisiert wieder – man kennt das Spiel. Wirkliche soziale und politische Lösungen sind Mangelware; das Mittelmeer in ein nasses Grab zu verwandeln kann jedenfalls keine sein.

Das politische Europa weiß bescheid, doch reagiert nur langsam

Der jüngste offene Brief des italienischen und französischen Präsidenten zugunsten einer Stärkung von Frontex (23. Oktober 2009) hat wider Willen eine möglicherweise interessante Dynamik in Gang gesetzt. Sicher, die Herren Berlusconi und Sarkozy fahren in ihrem Brief fort, Migranten zu kriminalisieren ohne die humanitären Probleme zu erwähnen. Jedoch hat der Europäische Rat vom 29. und 30 Oktober 2009 in den Schlussfolgerungen der Präsidentschaft ausgeglichenere Worte gefunden: er zeigt sich insbesondere „tragischen Vorfällen auf See“ bewusst. Der Rat schlägt der Kommission bis Anfang 2010 „die Ausarbeitung klarer gemeinsamer operativer Verfahren mit eindeutigen Einsatzregeln für gemeinsame Operationen auf See [vor], wobei gebührend darauf zu achten ist, dass hilfsbedürftige Personen aus gemischten Migrationsströmen völkerrechtlichen Schutz erhalten“. Obwohl das Dokument gleichzeitig den Forderungen Berlusconis und S arkozys entspricht, lassen diese Passagen auf eine bessere Handhabung der humanitären Lage im Sommer 2010 hoffen. Nichtsdestotrotz bleiben die Gefahren für die Betroffenen zwischenzeitlich die selben, und die Worte des Rates sind weit davon entfernt, ernsthaft beruhigen zu können, insbesondere wenn man bedenkt, wie lange die Situation schon anhält und dass keinerlei konkrete Maßnahmen in Aussicht gestellt werden.

Wenngleich es keine einfachen Lösungen für die durch Migrationsströme aufgeworfenen Probleme gibt, so ist die Lösung „Tod im Mittelmeer“ mit Sicherheit die widerwärtigste, abscheulichste und beschämendste. Es ist an uns, von unseren diversen Repräsentanten wieder und wieder zu verlangen, diese unmenschliche und gefährliche Situation so schnell wie möglich zu beenden. Die EU und Frontex müssen im Mittelmeer (und vor den kanarischen Inseln) die Lebensrettung als höchsten Imperativ anerkennen, einschließlich in den Kooperationsprinzipien mit unseren südlichen Nachbarn, anstatt eine zynische Politik der „Grenzsicherung“ fortzusetzen, die die Menschenwürde bis auf den Tod missachtet.

Die EU sollte außerdem ihre Präsenz auf See verstärken, nicht um Migranten abzuweisen, sondern um Leben zu retten, und sie sollte die Verantwortlichen derjenigen Schiffe zur Verantwortung ziehen, die Migranten in Seenot ignorieren, anstatt derer, die sie aus Seenot retten. Auf dem Spiel steht nichts anderes als die Humanität Europas.

(übersetzt aus dem Französischen)

Bild: Photo des Mittelmeers aus Barcelona, Quelle: Wikimédia.

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