Wichtig dabei ist, dass Kritik vom Europäischen Rat auch gehört wird. Das Konsultationsverfahren kann nur der Anfang einer fruchtbaren Diskussion über „Europa 2020“ gewesen sein. Neben den Forderungen nach einer stärkeren sozialen und ökologischen Dimension sowie einer verbindlicheren Sanktionierung wurden auch z.B. die fehlende Berücksichtigung der Landwirtschaft oder der Ernährungssicherheit im Entwurf der Kommission kritisiert. Es ist außerdem zu kritisieren, dass die Zeit für Diskussionen fehlt, da die umfassende Strategie bereits im Juni verbindlich angenommen werden soll und im März nur ein knapper Zeitrahmen für Beratungen zur Verfügung stand. Ein solch straffer Zeitplan widerspricht dem Gedanken einer neuen Strategie, die sorgfältig, ausgewogen, transparent und unter intensiver Einbeziehung der Öffentlichkeit zu Stande kommt. Wünschenswert wären weniger Hinterzimmer und mehr Marktplätze in der europäischen Strategiedebatte.
Doch neben den Schwächen bei der operativen Umsetzung war es insbesondere die zentrale Ausrichtung der alten Strategie, die fehlerhaft war. Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit waren die alleinigen Kriterien, an denen Fortschritt in der Europäischen Union gemessen werden sollte. Dieses Denken ist überholt. Wir müssen uns von überkommenen Wachstumsbegriffen verabschieden, wenn wir Europa erfolgreich aus der Krise steuern und gleichzeitig fit für die Zukunft machen wollen. Wenn die Europäische Kommission von intelligentem, nachhaltigem und integrativem Wachstum spricht, müssen wir sagen, dass Wachstum allein keine Strategie ist.
Die „Europa 2020“-Strategie muss eine Vision für 500 Millionen Europäerinnen und Europäer formulieren. Sie muss das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell für das 21. Jahrhundert weiterentwickeln, die Errungenschaften der Vergangenheit behaupten und gleichzeitig auf die Herausforderungen der Zukunft antworten. Dafür brauchen wir eine Strategie, die neben ökonomischen auch ökologische und soziale Ziele als gleichwertig anerkennt und diese in einem integrierten System aus politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Maßnahmen umsetzt. Unsere modernen Industriegesellschaften können in einer globalisierten Welt nicht mehr ein Wirtschaftsmodell verfolgen, dass auf endlose Ressourcenvorkommen und unendliche Steigerung von Produktionszahlen setzt. Vielmehr brauchen wir ein neues Denken darüber, was Fortschritt in einer Gesellschaft ausmacht und wie wir Erfolg messen. Maßnahmen für gute Bildung und eine effektive Kontrolle der Finanzmärkte, die Verbesserung der Qualität der Arbeit, der Kampf gegen Armut und der Einsatz für die Umwelt müssen gleichberechtigte Bestandteile einer solchen Strategie sein.
Eine erfolgreiche Wirtschaftsstrategie braucht soziale Fortschritte. Menschen, die von ihrer Arbeit leben und ihre Familien versorgen können, die Planungssicherheit haben und sich in ihrer Arbeit wohlfühlen, sind der beste Erfolgsgarant für Unternehmen und Betriebe. Benötigt werden daher konkrete soziale Maßnahmen wie verbindliche Mindestlöhne oder volle Entgeltgleichheit für Frauen und Männer in der gesamten Europäischen Union. Ziel der Politik muss eine Verbesserung der Lebensqualität für alle Europäerinnen und Europäer sein. An erster Stelle muss dabei die Bekämpfung und Vermeidung von Armut stehen. Die EU darf es nicht hinnehmen, dass fast 80 Mio. Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Das Europäische Jahr 2010 zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist ein Aufruf an Politik und Öffentlichkeit gleichermaßen. Armutsbekämpfung ist aktive Sozialpolitik zur Verbesserung der Lebensqualität in der Europäischen Union, keine Randnotiz für Sonntagsreden.
Dasselbe gilt für Umwelt-, Klima- und Naturschutz. Nur mit ambitionierten ökologischen Zielvorgaben sind wir in der Lage den Innovationsvorsprung Europas bei erneuerbaren Energien, Umwelttechnik und anderen nachhaltigen Technologien zu erhalten und auszubauen. Neben dem ungeheuren Potenzial für Wachstum und Beschäftigung, das sich hier eröffnet, ist die Umstellung unserer Industriegesellschaften angesichts sinkender fossiler Brennstoffreserven und den Erfordernissen zur Senkung von CO²-Emissionen alternativlos. Daher brauchen wir eine Modernisierung und Umsteuerung traditioneller Industriezweige als Kernelement einer ökologischen Wirtschaftspolitik. Europa muss hier wieder deutlicher Vorreiter sein. Der Erhalt und der schonende Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen in Europa ist zugleich eine moralische Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen.
Nicht zuletzt versetzt ein Erfolg dieser innovativen und integrierten Strategie für nachhaltige Entwicklung Europa in die Lage, im globalen Kontext positive Impulse zu geben. Von internationaler Kooperation in Umwelt- und Klimaschutz bis zur Entwicklungszusammenarbeit und der Förderung von Menschen- und Bürgerrechten. Wenn der European Way of Life integrierte Gesellschaften in nachhaltigen Wirtschaftssystemen mit hoher Lebensqualität hervorbringt, wird er automatisch zu einem Vorbild in der Welt werden.
Doch zunächst geht es darum, die Europäerinnen und Europäer von einer neuen Strategie zu überzeugen. Das Europäische Parlament und die nationalen Volksvertretungen, Gewerkschaften, Verbände und Unternehmen und die Zivilgesellschaft müssen zusammenarbeiten, um die Strategie „Europa 2020“ zu verwirklichen. Die Akzeptanz und die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger Europas ist die Grundvoraussetzung für den Erfolg. Mit dem Lissabonner Vertrag können wir in Europa endlich mehr Demokratie wagen. Tun wir es!
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