Nach einem langen Arbeitstag verlasse ich mein Büro und mache mich auf den Weg zur Metro. Um mich herum erstrecken sich hohe Gebäude, viele Fenster sind noch beleuchtet und deuten auf lange Überstunden hin. Neben mir die dreispurig Straße – völlig verstopft, die Autos hupen, Sirenen sind zu hören und die Fahrer hinter den Steuern werden ungeduldig. Menschen in Anzügen begleiten mich auf meinem Weg, eilen zur Metro oder gehen zu Fuß nach Hause. Sie unterhalten sich auf Englisch, Deutsch, Französisch oder einer anderen europäischen Sprache.
Ich steige in die Metro, habe Glück einen Platz zu finden und nach zwanzigminütiger Fahrt bin ich fast an meinem Ziel angekommen. Mit dem Verlassen der Metrostation scheine ich eine andere Welt zu betreten. Die Gebäude sind kleiner, nur wenige Menschen tragen Anzüge. Busse, Straßenbahnen und viele Fußgänger prägen das Stadtbild. Die meisten Frauen tragen Kopftücher, an der Hand mindestens ein kleines Kind. An jeder Ecke gibt es Gemüsehändler, kleine Kneipen und Läden, die allerlei Krimskrams verkaufen – das pure Leben - meine Nachbarschaft im Norden Brüssels in Laken. Ich habe einmal versucht nach der Richtung zu fragen, die meisten Bewohner hier sprechen jedoch nur arabische Sprachen.
Ich wohne in einer Stadt, die viele Gesichter hat. Jeder Stadtteil hat eine andere Prägung, andere Bewohner, ja fast sind es eigene kleine Städte innerhalb dieser Stadt. Man könnte Brüssel als Hauptstadt Europas bezeichnen, als Modellstadt für die Europäische Union oder als „Europa für Beginner“, wie es ein Engländer treffend formulierte. Spanier, Italiener, Franzosen, Belgier, Deutsche und viele andere Nationalitäten - alle leben gemeinsam in einer Stadt, versuchen sich zu verstehen und gemeinsam für ein Ziel zu arbeiten: die Europäische Union. Von außen betrachtet ein harmonisches Bild. Die Stadt ist vielfältig, sie ist spannend und sehr politisch. Sie bietet jedem etwas, je nachdem was von ihr erwartet wird.
Jedes Mal, wenn ich mich im europäischen Viertel aufhalte und die vielen verschiedenen Gesichter sehe - mal ernst, mal freundlich, meist noch jung – frage ich mich, wie diese Menschen Brüssel wahrnehmen. Nenne ich ihnen meine Adresse, kennen viele diesen Stadtteil gar nicht. „Laken, wo soll das sein?“ Er taucht noch nicht einmal auf meiner Stadtkarte auf. Die Meisten bewegen sich in der ganzen Zeit, in der sie in Belgiens Hauptstadt leben, nur selten aus dem Europaviertel hinaus. Sie wissen nichts von den anderen Stadtteilen, von den Sorgen und Problemen, aber auch den schönen Seiten dieser sehr vielfältigen Gegend.
Ich möchte es genauer wissen, will rausfinden, ob die Arbeit in dieser EU-geprägten Stadt die Bewohner automatisch zu bewussteren Europäern macht. Kann sich hier etwa das, in so vielen EU-Ländern vermisste, Gefühl einer europäischen Identität entfalten? Oder sehen sich die Angestellten der europäischen Institutionen vorwiegend ihren Heimatländern zugehörig, um sich so von der europäischen Masse abheben zu können?
Erasmus für Erwachsene
Ich spreche mit Menschen in der Metro, im Zug, auf der Straße und bei der Arbeit. Ohne große Erwartungen kam eine Polin in die Stadt, um hier zu arbeiten. Die Vielfalt der Sprachen und Kulturen, das Essen sowie die unterschiedlichen Erwartungen und Lebenserfahrungen der Menschen mache aus Brüssel eine der europäischsten Städte der Welt, meint sie. Sie selbst sehe sich zunächst als Europäerin und dann erst als Polin. In diesem Gedanken fühle sie sich hier bestärkt, da sie ständig von verschiedenen Nationalitäten umgeben sei. Dennoch stelle sie fest, dass sich die europäischen Bewohner in Brüssel nicht immer durchmischen, sondern oft unter Ihresgleichen blieben.
Seit 15 Jahren lebt ein Engländer in der Hauptstadt Belgiens. Für ihn besteht die Stadt aus zwei Lagern: den Brüsseler Einwohnern, also den Belgiern, und den Mitarbeitern der europäischen Institutionen. Diese hätten nur wenig miteinander zu tun. Würde man im europäischen Viertel arbeiten, lebe man wie in einer Blase. Er selbst fühlt sich in Brüssel nicht europäischer.
„Brüssel ist wie Erasmus für Erwachsene“, findet eine Mitarbeiterin einer europäischen Institution. Hier würden unterschiedliche europäische Kulturen aufeinandertreffen, man begegne sich immer wieder, tausche sich aus und lerne so voneinander. Viele Paare unterschiedlicher Nationen finden sich hier in Brüssel und entscheiden sich dafür, in dieser Stadt zu bleiben, um einen neutralen, einen europäischen Boden für ihre Beziehung zu haben. „Brüssel ist eine sehr europäische Stadt, aber die EU-Institutionen geben uns nicht das Gefühl europäischer zu sein“, beantwortet eine Belgierin meine Fragen.
Ein Paradies für Praktikanten
Viele Praktikanten kommen nach Brüssel, um die EU zu verstehen, mit Menschen aus ganz Europa zusammenzuarbeiten, aber auch um hier eine Karriere zu beginnen. Die meist noch jungen Praktikanten prägen das Stadtbild vor allem im europäischen Viertel. Sie sind der Meinung, dass Brüssel durchaus einen europäischen Charme habe. Auf jeder Veranstaltung könne man junge Menschen verschiedener Kulturen kennenlernen. Dennoch kritisieren sie, dass die meisten Nationalitäten unter sich blieben. Auch sie spüren, dass die EU eine Parallelgesellschaft kreiere.
Interessant ist die Antwort eines Tunesiers. Ja, er lebe nun in Europa, aber sonst habe er damit nichts zu tun. Er wohne seit zwei Jahren in Belgien, im Haus seines Onkels. Hier gäbe es viele Tunesier und Araber, europäischer würde er sich hier nicht fühlen.
Nach vielen interessanten Gesprächen komme ich zu dem Schluss, dass Brüssel mit seiner Vielfältigkeit die europäische Integration fördert, die Kulturen vermischt und den Gedanken Europa stärkt. Auch ich fühle mich seit ich hier lebe jeden Tag ein Stückchen mehr als Europäer. Das besondere an Brüssel ist, dass ich mich hier niemals wirklich als Ausländer gefühlt habe, sondern als Teil einer europäischen Gesellschaft. Der europäische Geist ist überall spürbar. Jedoch werden auch neue Randgesellschaften geschaffen, die nichts mit der Europäischen Union zu tun haben. Brüssel bleibt also trotz seiner Vielfalt, oder gerade deswegen, eine gespaltene Stadt.
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