In unmittelbarer Nähe der Hamburger Staatsbibliothek steht eine besondere Schuldenuhr: Auf gleißend roten Digitalanzeigen kann man dort gleich zwei Zahlen in einem unfairen Wettrennen gegeneinander nach oben rauschen sehen: Zum Einen die Verschuldung der Stadt Hamburg, zum Anderen die Summe des privaten Vermögens seiner reichsten zehn Prozent.
An dieser Uhr würde ich George Soros gerne vorbeiführen. „George“, der in dem Europa, aus dem er ausgewandert ist, György heißt. Aber die Märkte funktionieren über Vertrauen, und einem György vertraut man nicht so gerne wie einem George. George lässt also seine aufmerksamen Leser angesichts der Lage des Landes, dessen „glühender Anhänger“ er ist, wissen, wie er es retten würde. Wenn er denn könnte... und da sind wir wieder bei der Uhr mit dem Privatvermögen und den Staatsschulden.
Aber wir mögen die Geschichte von dem „bekehrten“ Finanzguru, der sein mit Spekulationen verdientes Geld nun zugunsten der Menschheit einsetzt. Es ist eine schöne Geschichte. Und weil er von Wirtschaft ja auch wirklich Ahnung hat, diskutieren wir aufgeregt seine Thesen, vom Spiegel bis hin zu den „Times of India“. Täten wir das auch bei einem Artikel von Jens Weidmann? Der wäre vermutlich nicht halb so geschickt aufgebaut, so bestechend in seiner scheinbaren Logik, die uns eine sehr schöne (weil kohärente) Geschichte erzählt. Hauptdarsteller: Staaten, die EU, Politiker, allen voran Angela Merkel. Nebendarsteller: Finanzakteure.
In Soros gesamtem Text spielen sie nicht ein einziges Mal eine aktive Rolle. Sie reagieren auf die Vorgaben der Politik und wo diese versagt, „brechen sie zusammen und müssen am Leben erhalten werden“. Die Dramatik einer wirklich guten Geschichte! Außerdem steht der Held am Ende vor einer schwarz-weiß Entscheidung, ganz oder gar nicht, lead or leave! Das ist sogar noch eine Alliteration. Ein großer Erzähler ist hier am Werk. Einer, der sowohl Form als auch Inhalt beherrscht.
Mit Währungszusammenbrüchen kennt sich Soros gut aus – er spielte selbst in einigen mit, von Großbritannien bis Malaysia. So verkündete er auch 2008 stolz in einem Interview seine Profite: „I’m having a good crisis“. Sie seien ihm gegönnt – was ihm nicht gegönnt ist, ist dieses lobbyistische Glanzstück. Gehen wir also ein paar Fakten durch:
Soros zufolge wurden die „Schuldnerstaaten“ durch „politische Umstände“ in die Depression gezwungen. Das stimmt sicher für einige Länder, in denen über Jahrzehnte hinweg systematisch haushaltspolitische Misswirtschaft getrieben wurde. Unerwähnt bleibt zunächst allerdings die Finanzkrise, die vielen Staatshaushalten immense Summen abgerungen hat. Erst einige Seiten später wird das Ereignis als der Moment dargestellt, in dem die Defizite „entdeckt“ wurden. Ein Kausalverhältnis zwischen den Milliardenhilfen und den Staatsschulden beschreibt Soros nicht. In dieser Argumentationslinie erscheint es logisch, dass die Staaten die hohen Risikoprämien für Defizitländer, die sie verursacht haben, auch ausschalten müssen – und zwar am besten, in dem sie den Investoren die ausfallsrisikobehafteten Papiere abkaufen: „Der Fonds würde die Schulden nicht streichen, sondern die Schuldtitel halten.“
Die no-bailout Klausel, festgelegt im Vertragswerk seit 1992, wird bei Soros zu einer Idee Angela Merkels, die sie verkündet, woraufhin ein Jahr später eine Art finanzielles Baumsterben ausbricht. Die Zahlen, die er dazu verkündet, sind korrekt – nur verweisen sie eben darauf, dass die Finanzmärkte nicht damit rechneten, dass diese Klausel tatsächlich angewandt werden würde. Erst als klar wurde – und hier kommen tatsächlich Angela Merkels Ankündigungen ins Spiel – dass Deutschland diese Klausel einzuhalten gedachte, schossen die griechischen Risikoprämien in die Höhe.
Auch die von ihm geforderten 5% Wachstum sind sicher richtig und wünschenswert, aber über die Art, wie diese Zahl erreicht werden soll, verliert der Wirtschaftsexperte kein Wort. Zum Vergleich: Brasilien, als BRIC-Staat eine aufsteigende Macht, peilt für 2012 ein Wirtschaftswachstum von 3,03% seines BIPs an. Für den gleichen Zeitraum liegt die EU bei etwas über 0%. 5% scheinen da ein Ziel in weiter Ferne.
Soros‘ Essay ist ein klassischer Fall von hindsight – nachträglicher Einsicht. Doch die Tatsache, dass wir im Nachhinein Kausalitäten erkennen, bedeutet nicht, dass sie auch vorherzusehen waren. Er selbst schreibt, dass eine Beruhigungstaktik „normalerweise funktioniert“. Dass man hier rückblickend vorausschauender hätte agieren müssen, ist so wahr wie leicht gesagt. Soros‘ Analyse ist korrekt, aber seine Schlussfolgerungen zeichnen ein schwarz-weißes Lösungsmuster, das eine komplexe Situation auf zwei Optionen reduziert.
Das wirklich traurige an der Geschichte, die György Soros uns hier erzählt, ist, dass vieles davon vermutlich wahr werden wird. Im Falle der Märkte gilt tatsächlich, was man sonst aus Märchen kennt: das, woran genügend Menschen glauben, wird auch geschehen. Nur müssen wir uns bei der Lektüre des Meisters daran erinnern, dass die meisten Märchen aus der Sicht des Gewinners erzählt werden.
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