Was letztes Mal geschah: „’Tschuldigung, ist hier noch frei?“ fragt die mit Hüftrucksack, zwei Stofftaschen und einem Schlafsack ausgestattete Praktikantin. Im Abteil angekommen verteilt sie ihren gesammelten Hausrat über, unter und zwischen den Sitzen und kramt dann ihre Lieblingszeitschrift NEON hervor.
Typ III: Die Praktikantin
Sie ist überzeugte Europäerin. Nach dem Abitur tourte die Praktikantin durch Osteuropa, ihr Erasmusjahr absolvierte sie – wie könnte es auch anders sein – in Barcelona und ihr Ex-Freund Jean-Pierre ist Franzose. Neben diesen Eigenschaften qualifiziert sie vor allem ihre Bereitschaft für wenig Geld, unter schlechten Bedingungen, Überstunden zu machen. „Naja, es geht ja auch nicht ums Geld, sondern darum Erfahrungen zu sammeln“ sagt sie zu sich selbst und ihren Freunden. „Erfahrungen“ wird auch zum meistbenutzten Wort in den drei Monaten Praktikum werden. So zum Beispiel als sie den aus den Abendnachrichten bekannten, von ihr angehimmelten, Europaabgeordneten sturzbetrunken auf einer Veranstaltung erlebt.
Wenn schon nicht die Arbeit, dann ist wenigstens das Leben in Brüssel außergewöhnlich toll, denkt die Praktikantin sich. Das internationale Flair, die Praktikanten aus aller Herren Länder – einfach unglaublich! Carlos, beispielsweise, der gut aussehende spanische Kommissionspraktikant, der ihr Donnerstagsabends am Place Lux die Sterne vom Himmel holt. Bis sie erfährt, dass Carlos das jeden Donnerstag macht – nur die Adressatinnen wechseln. Unsanft wird sie von einem klackernden Geräusch gestört, das sie vorher wohl gedankenversunken überhört hatte. Es ist der Tischnachbar. Der mit der Lautstärke eines Spechts seine Laptoptastatur beackert.
Typ IV:Der Etablierte
Der Lautstärke nach zu schließen kann es sich nur um einen etablierten Brüsselianer handeln. Als er nach Brüssel kam, hatte Jacques Delors gerade die oberste Etage im Berlaymont-Gebäude bezogen. Und ja, zumindest erzählt er diese Geschichte gerne seinen jüngeren Kollegen, er diente auch unter dem strengen Regime des Biests vom Berlaymont und dabei handelt es sich um niemand Geringeren als Delors’ damaligen Kabinettschef und heutigen Generaldirektor der WTO: Pascal Lamy.
Doch zurück zum Klappern der Laptoptastatur. Der laute Tastenanschlag ist gewissermaßen seinen Entzugserscheinungen geschuldet. Als er vor dreieinhalb Jahren auf Drängen seiner Kollegen seine geliebte Reiseschreibmaschine eingemottet hat, musste er – wohl oder übel – auf einen dieser neumodischen Klapprechner umsteigen. Überhaupt bringt dieses neue Gerät viele Vorteile mit sich, z.B. eine funktionierende Uhr. Früher hatte er die Zeit auf seinen Zugfahrten anhand der Akten gemessen. Die Strecke Brüssel-Lüttich war eine Direktive oder zwei Kommissionsmitteilungen lang, Lüttich-Köln entsprachen ein Impact Assessment oder wahlweise fünf Vermerke.
Man sollte den Etablierten vor Köln nicht in ein Gespräch verwickeln. Es sei denn, man möchte die verbleibenden zwei Stunden damit verbringen, sich anzuhören wie nun die Einheitliche Europäische Akte und ihre Auswirkungen auf die Harmonisierung des Veterinärrechts schlussendlich zu bewerten sind...
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