Alternative Fakten in der Europäischen Erinnerungskultur

Treffpunkt Europa Essay Wettberwerb

, von  Alina te Vrugt, übersetzt von Stéphanie-Fabienne Lacombe

Alternative Fakten in der Europäischen Erinnerungskultur
Das Holocaustdenkmal - Foto:privat

treffpunkteuropa.de hat im Februar einen transnationalen Essay-Contest ausgerufen. Besonders viele Einsendungen erreichten uns zu Thema 3 mit der Frage: „Hin zu einer Kultur des “anything goes” in Europäischer Geschichte und Erinnerungskultur?“ Autoren sollen in ihrem Essay über Phänomene wie „alternative Fakten“ und „post-truth“ im Kontext geschichtlicher Argumentationen nachdenken, sowie über die Fallstricke historischer Analogien und das damit verbundene Potential für politische Manipulation. Jeden Samstag wird ein Essay veröffentlicht.

Wir sollten über Erinnerung sprechen. Nicht über eine bestimmte Erinnerung, sondern das Erinnern im Allgemeinen. Genauer gesagt: Die Erinnerungskultur Europas.

Der Umgang mit Fakten und Wahrheiten verändert sich. Das liegt nicht zuletzt daran, dass US-Präsident Donald Trump den Medien unermüdlich „Fake News“ vorwirft und dem Volk stattdessen „alternative Fakten“ bietet. Hat die Amerikanisierung jetzt auch die Erinnerungskultur Europas erreicht? Hat Europa „anything goes“ aus den USA importiert? Sind alternative Fakten und Postwahrheiten auch hier salonfähig geworden? Der Umgang mit der Wahrheitsfindung hat einen großen Einfluss auf die Betrachtung der Vergangenheit. Die Darstellung der Vergangenheit ist nichts Objektives, sondern die Version, auf die sich eine Gruppe von Menschen im Nachhinein einigt. Das spielt im Moment eine wichtige Rolle, denn Europa befindet sich an einer Schwelle. Bald leben nicht mehr Opfer und Täter vereint auf einem Kontinent, sondern nur noch deren Nachkommen. Auch wenn historische Debatten immer wieder zu einem politischen Inhalt werden, hat die Frage nach der Veränderung der europäischen Erinnerungskultur in den Medien bisher wenig Beachtung erfahren. Dabei entscheidet sich gerade jetzt, wie man die aktuelle Vergangenheit in der Zukunft betrachten wird. Dass es sich bei sogenannten alternativen Fakten und Postwahrheiten um wirksame Mittel zur Beeinflussung des Volkes handelt, ist spätestens seit der Amtseinführung von Donald Trump am 20. Januar 2017 nicht mehr zu bestreiten. Deshalb besteht eine Dringlichkeit, den Umgang mit Fakten und der Wahrheitsfindung vor dem Hintergrund der Betrachtung der Historie zu diskutieren. Mit der zunehmenden Empfänglichkeit für Postwahrheiten wächst das Potential politischer Manipulation durch historische Analogien, die auf sogenannten alternativen Fakten beruhen. Erinnern ist ein Prozess, Erinnerungskultur das Ergebnis eines Diskurses. Auf der Stockholmer Internationalen Holocaust-Konferenz im Januar 2000 wurde der Völkermord an Juden als negativer Mittelpunkt der europäischen Erinnerungskultur festgeschrieben. Ein ganzer Kontinent muss sich mit der Vergangenheit beschäftigen, um diese zu verarbeiten.

Europa ist einen weltweit beispiellosen Weg gegangen, in dem aus Feinden Verbündete geworden sind. Das hat ein gemeinsames europäisches Gedächtnis geschaffen. Aber wie das so ist mit dem Gedächtnis, wird es mit den Jahren nicht gerade besser. Gehen die Gedächtnislücken mit einer Veränderung der Persönlichkeit einher? Trotz aller Gemeinsamkeiten, die die Erinnerungskultur betreffen, gibt es auch nationale Unterschiede. Deutschland gedenkt seit 1996 jeweils am 27. Januar offiziell der Opfer des Nationalsozialismus (NS). An diesem Tag jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz. Während sich die Erinnerungskultur im Westen vordergründig mit den NS-Jahren auseinander setzt, setzt sich der Osten Europas mit den Folgen der sowjetischen Hegemonialpolitik auseinander. Er leidet unter seiner abgeschirmten Vergangenheit hinter dem Eisernen Vorhang. Die Auswirkungen zeigen sich auch heute noch, nicht zuletzt in der Überforderung der Visegrád-Staaten mit dem hohen Migrationsaufkommen seit 2015. Für deren protektionistisches Verhalten haben die traditionellen Einwanderungsstaaten im Westen wenig Verständnis. So ist eine Ost-West-Trennlinie mitten in Europa entstanden. Aber egal, welchen Aspekt der Vergangenheit Europas man betrachtet, es gibt immer mehrere subjektive Version von dem, was geschehen ist. Und mit der wachsenden Empfänglichkeit für alternative Fakten werden es immer mehr Versionen.

Beim Begriff „alternative Fakten“ handelt es sich um das Unwort des Jahres 2017. Er impliziert, dass es sich bei Falschbehauptungen um ein legitimes Mittel der Beeinflussung der öffentlichen Meinung handelt. Trump hat die sogenannten alternativen Fakten salonfähig gemacht. Und er hat Erfolg damit. Der amtierende US-Präsident steht als Gewinner dar, der Rationalismus als Verlierer. Kellyanne Conway, Trumps Beraterin, prägte den Begriff „alternative Fakten“ besonders in Bezug auf Trumps Amtseinführung. Obwohl die Filmaufnahmen etwas anderes beweisen, ist sie der Auffassung, die Amtseinführung hätten in der Geschichte der USA die meisten Zuschauer beigewohnt. Gerade an einem aktuellen Fall wird deutlich, welche Brisanz die Veränderung historischer Analogien hat. Das polnische Holocaust-Gesetz tritt am 1. März 2018 in Kraft. Es verbietet unter anderem, Todeslager im besetzen Polen als „polnische Lager“ zu bezeichnen. Zudem sieht das Gesetz für Menschen, die Polen eine Teilschuld an Nazi-Verbrechen geben, neben Geld- auch Haftstrafen vor. Eines hat die Debatte, die die polnische Regierungspartei PiS ins Rollen gebracht hat, bewirkt: Alle reden über die „Polish death camps“ – gedacht war das so allerdings nicht. Das Thema sorgte kürzlich auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2018 für Unruhe und hochrangige Politiker äußerten sich zu der Angelegenheit. Aber warum schalten sich Politiker wie Israels Premier Benjamin Netanjahu und der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel auf der Sicherheitskonferenz in eine historische Debatte ein? Das Holocaust-Gesetz stellt einen Einschnitt in die Betrachtung der Geschichte dar. Es impliziert einen undifferenzierten Umgang mit der Vergangenheit. In München sprach der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki unter anderem von „jüdischen Tätern“. Obwohl er sofort zurückruderte, muss er sich spätestens seitdem mit dem Vorwurf der Holocaust-Leugnung auseinandersetzen. Das israelische Außenministerium drohte sogar mit dem Abzug des Botschafters. Es zeigt sich ganz deutlich: Die Betrachtung der Vergangenheit hat großen Einfluss auf das aktuelle politische Geschehen.

Auch durch die deutsche Erinnerungskultur geht ein Ruck. Björn Höcke von der AfD bezeichnete sie als lähmend, das Holocaust-Mahnmal in Berlin doppeldeutig als „Denkmal der Schande“. Die AfD wurde in der Bundestagswahl 2017 zur drittstärksten Kraft gewählt. Wenn ein Holocaust-Mahnmal öffentlich als „Denkmal der Schande“ bezeichnet wird, dann fehlt nicht mehr viel bis zu „anything goes“. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Empfänglichkeit für Postwahrheiten eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstellt, denn sie ermöglicht Manipulation. Die Vergangenheit ist das Fundament der (politischen) Weltordnung. Undifferenzierte, alternative Fakten können die Betrachtung der Geschichte ganz neu aufmischen und das Fundament angreifen. Denn politische Argumente und historische Analogien lassen sich in einem Zirkelschluss immer wieder aufeinander zurückführen.

Zur Recherche genutzt (jeweils abgerufen am 24.02.2018):
 http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39860/erinnern-in-europa?p=all
 http://www.sueddeutsche.de/kultur/sprachkritik-begriff-alternative-fakten-ist-unwort-des-jahres-1.3827241
 http://www.zeit.de/kultur/2016-12/postfaktisch-wort-des-jahres-post-truth-demokratie-jill-lepore/seite-2
 https://www.welt.de/politik/deutschland/article161286915/Was-Hoecke-mit-der-Denkmal-der-Schande-Rede-bezweckt.html
 https://www.tagesschau.de/ausland/polen-holocaust-gesetz-101.html
 https://www.nzz.ch/international/polen-verheddert-sich-in-seinem-holocaust-gesetz-ld.1358483
 http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/conway-verteidigt-trump-mit-alternativen-fakten-14841791.html

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