Strategische Lage innerhalb der NATO
Innerhalb der NATO nehmen die baltischen Staaten aufgrund ihrer weitreichenden geografischen Isolation eine besondere Rolle auf der Ostflanke des Bündnisses ein. Insgesamt beträgt die Landgrenze der drei Staaten zu Russland und Belarus knapp 1,360 km. Die einzige Grenze zu einem anderen EU-Staat führt durch die sogenannte Suwałki-Lücke - ein schmaler, knapp 90 km langer Landstrich zwischen Polen und Litauen, der zwischen der russischen Enklave Kaliningrad und Belarus eingekesselt ist. Sollte es feindlichen Kräften gelingen, die Lücke zu besetzen, wären die baltischen Staaten von ihren westlichen Verbündeten auf dem Landweg abgeschnitten. Auch über den Seeweg bringt die Nähe zu Russland taktische Herausforderungen mit sich: die baltische Flotte der russischen Marine, deren Stützpunkte in Kaliningrad und in Kronstadt im finnischen Meerbusen situiert sind, führt regelmäßig Militärübungen im Ostseeraum durch.

Die Suwalki-Lücke zwischen Litauen und Polen. Foto: Wikimedia Commons | NordNordWest | CC BY-SA 3.0
(Hybride) Gefahrenlage
Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine werden die baltischen Staaten oft als nächstes potenzielles Angriffsziel von Russland gehandelt, unter anderem aufgrund ihrer geografisch prekären Lage. “Wir spüren den (Ukraine)-Krieg hautnah", äußerte sich der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis Anfang letzten Jahres. "Wir verstehen, dass Russland weiter macht, wenn es in der Ukraine nicht aufgehalten wird. Und dann wären die Staaten des Baltikums als nächstes dran”, fügte er hinzu.
Schon vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs hatte sich die Sicherheitslage im Baltikum aufgrund der hybriden Kriegsführung von Belarus und Russland verschärft. Im Mai 2021 begann das belarussische Lukaschenko-Regime, Migrant*innen aus dem Nahen Osten, Zentralasien und Nordafrika an die Grenze zu Polen, Lettland und Litauen zu transportieren und (auch unter Androhung von Gewalt) zum Grenzübergang zu bewegen, um politischen Druck auf die EU auszuüben.
Seit 2022 haben sich die hybriden Attacken auf die Infrastruktur der baltischen Staaten vervielfältigt. Allein zwischen Oktober 2023 und Januar 2025 wurden in der Region laut Angaben der Associated Press elf Unterwasserkabel mutwillig beschädigt. In Estland wurden die Autofenster des Innenministers sowie eines Journalisten eingeschlagen und Denkmäler beschädigt, angeblich in russischem Auftrag.
Die Route der Migrant*innen, die ab 2021 von Belarus an die EU-Grenze transportiert wurden. Foto: Wikimedia Commons | Homoatrox | CC0 1.0
“Ab dem ersten Meter”
Angesichts der realen Bedrohung durch Belarus und Russland einigten sich die Verteidigungsminister der drei Staaten im Januar 2024 schließlich auf die Errichtung der ‘Baltic Defence Line’, einem gemeinsamen Abwehrbollwerk, das die Ostflanke der NATO verstärken und vor russischen Angriffen schützen soll.
Dabei verwiesen sie unter anderem auf die Abschlusserklärung des NATO-Gipfels 2022 in Madrid, in der betont wurde, dass jedes Bündnismitglied “ab dem ersten Meter” sein Hoheitsgebiet verteidigen soll. Dies stellte eine signifikante Abkehr von der vorigen Verteidigungstaktik der NATO für das Baltikum, der Tripwire-Taktik, dar.
Laut der 2014 verabschiedeten Strategie sollte in den baltischen Ländern lediglich eine begrenzte Anzahl an NATO-Kräften stationiert werden, die im Falle einer Invasion (höchstwahrscheinlich) überrumpelt würden. Erst danach wäre der Bündnisfall gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrags getriggert worden, woraufhin die Bündnispartner versuchen würden, innerhalb von 180 Tagen die eingenommenen Gebiete zu befreien.
Die Tripwire-Taktik wurde von den baltischen Staaten mit Skepsis beäugt, da sie eine russische Besatzung - wenn offiziell auch nur vorübergehend - wohl oder übel in Kauf nahm. Die damalige estnische Premierministerin und jetzige Hohe Repräsentantin der EU, Kaja Kallas, warnte im Vorlauf des Madrider Gipfels, dass die Strategie “die vollständige Zerstörung von [unseren] Ländern und unserer Kultur” bedeuten würde. In Madrid wurde man sich schließlich einig: Neben der Aufstockung der NATO-Truppen auf 300.000 Streitkräfte sollten auch mehr einsatzbereite Waffen und Abwehrsysteme bereitgestellt werden, mit denen sich das Baltikum im Angriffsfall stärker verteidigen könnte.
Die Staats- und Regierungschef*innen der 32 NATO-Mitgliedsstaaten während des Madrider Gipfels. Foto: Wikimedia Commons | U. S. Department of State | Public Domain
Andere Länder, andere Sitten
Das Hauptaugenmerk der Baltic Defence Line liegt auf der Installation von mobilitätshindernden Infrastrukturelementen entlang der Grenze, die im Falle eines Angriffs das Vorpreschen feindlicher Kräfte stoppen oder zumindest verlangsamen sollen. Die drei Länder haben vereinbart, jährlich jeweils 60 Millionen Euro in das Abwehrbollwerk zu investieren.
Dabei sieht die Umsetzung des Abkommens in den jeweiligen Ländern durchaus unterschiedlich aus: Lettland und Litauen setzen vor allem auf Infrastruktur zur Panzerabwehr, um Russland Paroli zu bieten. Beide Länder haben letztes Jahr mit dem Bau von sogenannten “Festungsparks” begonnen, die entlang der Staatsgrenzen zu Belarus und Russland errichtet und mit Panzersperren und anderen mobilitätshindernden Elementen ausgestattet werden. Im Falle Litauens gehören der Neuaufbau von Entwässerungsgräben, das Anlegen von neuen Waldstücken und die Barrikadierung von Brücken zur russischen Enklave Kaliningrad ebenfalls zu den Plänen der Regierung, während Lettland an seinen Grenzen Panzergraben bauen möchte.
Derweil hat Estland angekündigt, ab 2025 knapp 600 Bunker entlang der Grenze mit Russland zu errichten, zusammen mit den dafür notwendigen Stützpunkten und Verteilungsleitungen. Zudem sollen Minen, Stacheldraht und Panzersperren in Form von Höckerlinien bereitgestellt werden, die allerdings nur im Kriegsfall Anwendung finden sollen. Der Ansatz Estlands hängt vornehmlich damit zusammen, dass es im Gegensatz zu Lettland und Litauen mit dem Peipussee und dem Fluss Narva bereits über natürliche Barrieren an der Grenze zu Russland verfügt.
Mögliche Probleme
Während die Arbeiten am Bollwerk vielerorts bereits in vollem Gange sind, sieht sich das Projekt trotzdem immer noch mit Fragen konfrontiert. Eine dieser Fragen ist die der Lastenteilung: Während die veranschlagten 60 Millionen Euro in Lettland und Estland jeweils knapp 8% des nationalen Verteidigungsbudgets ausmachen, fallen sie in Litauen mit nur 2,5% deutlich weniger ins Gewicht.
Diese Diskrepanz fußt unter anderem in den unterschiedlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten der drei Länder, bei denen Estland (BIP: 41,29 Milliarden im Jahr 2023) und Lettland (42,25 Milliarden) deutlich hinter Litauen (79,79 Milliarden) zurückbleiben. Dabei hat Litauen mit fast 1000 km Grenze zu Belarus und Russland den größten Verteidigungsbedarf, weswegen dem Land vor kurzem auch von der EU [finanzielle Hilfe in Höhe von 150 Millionen Euro-https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/2326345/lithuania-to-get-eu-funding-for-russia-border-security-minister] versprochen wurde. Eine zu unausgewogene Lastenteilung könnte innerhalb des Projekts zu Spannungen führen und für Intransparenz sorgen.
Zudem ist noch nicht 100% geklärt, ob und inwiefern die drei Staaten private Grundeigentümer in grenznahen Regionen überzeugen können, ihr Besitztum an den Staat zu veräußern. Dieses Problem wird durch die demografische Zusammensetzung der Grenzregionen weiter verschärft, in denen viele ethnische Russen angesiedelt sind, die oftmals eine pro-russische Haltung einnehmen. Einer Studie des estnischen Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2024 zufolge wären 67% der ethnischen Est*innen dazu bereit, ihr Land zugunsten der Landesverteidigung aufzugeben, während dies bei nicht-ethnischen Est*innen bei lediglich 38% der Fall ist. Daher ist nach wie vor fraglich, wie durchführbar der Ausbau der nötigen Infrastruktur wirklich ist.
Bevölkerungsanteil der ethnischen Russ*innen in den baltischen Staaten. Foto: Wikimedia Commons | Xil | CC BY-SA 4.0
Fazit
Die Baltic Defence Line ist Ausdruck einer neuen sicherheitspolitischen Entschlossenheit der baltischen Staaten angesichts einer zunehmend bedrohlichen Lage an der NATO-Ostflanke. Die geografische Isolation, die Nähe zu Russland und die Verwundbarkeit durch hybride Angriffe haben Estland, Lettland und Litauen dazu bewegt, ihre Verteidigungsstrategie grundlegend zu überdenken. Statt wie früher auf die Reaktion im Ernstfall zu setzen, soll nun eine aktive Verteidigung „ab dem ersten Meter“ möglich sein. Der infrastrukturelle Ausbau erfolgt dabei unterschiedlich, aber zielgerichtet – mit einem klaren Fokus auf Grenzsicherung und Mobilitätsverhinderung. Doch trotz politischem Willen und internationaler Unterstützung steht das Projekt vor erheblichen Herausforderungen, insbesondere in Bezug auf gerechte Lastenverteilung, sozioökonomische Unterschiede und die Akzeptanz in grenznahen, teils russischstämmigen Bevölkerungsteilen. Ob die Baltic Defence Line letztlich ihr Ziel – eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber Russland – erfüllt, wird nicht nur von militärischer, sondern auch von gesellschaftlicher Geschlossenheit abhängen.
Kommentare verfolgen:
|
