Normalität in Berlin
Ich lebe seit mehr als einem Jahrzehnt in Berlin und ganz selbstverständlich gehört Europa hier zu meinem Alltag. Wenn ich morgens meine Wohnung verlasse und mich auf den Weg zur Universität begebe, schnappe ich nicht nur arabische, deutsche und türkische, sondern auch dänische, polnische oder italienische Gesprächsfetzen in der S-Bahn auf. In meiner Fakultät angekommen, rufe ich meinen Kommilitonen aus Berlin wie Paris und London ein Hallo zu. Spätestens in der Mensa werden wir uns unterhalten können. Eurokrise, AfD sowie die Wahlen zum Europäischen Parlament gehören zum Gesprächsstoff wie die Freuden der Uni-Küche. Auf dem Heimweg weise ich deutschen und spanischen Touristen die Richtung zum Berliner Dom und am Wochenende stehe ich hinter einer Gruppe Finnen am Eingang eines der unzähligen Berliner Clubs.
Aus ganz Europa zieht es junge wie alte Menschen nach Berlin. Sei es zum Arbeiten, Studieren oder für einen kurzen Trip in die deutsche Hauptstadt. Hier kann der Wahlspruch der Europäischen Union „In Vielfalt vereint“ erlebt und ausgelebt werden. Aber was ist an diesem kurzen Berliner Eindruck so besonders? Nichts, behaupte ich. Viel interessanter ist es doch, was wir in Berlin nicht als selbstverständlich empfinden und was die Mehrheitsgesellschaft ablehnt. Nicht jeder kommt dank der gemeinsamen europäischen Politik mit so vielen Freiheiten wie die Erasmusstudierenden oder Touristen nach Berlin.
Am Oranienplatz hört Europa nicht auf
Es ist ein verregneter Samstagnachmittag im November 2013, als ich am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg vorbeikomme. Dieser Ort hat im letzten Jahr viel Aufmerksamkeit erfahren. Gegen Abschiebung, Residenzpflicht und Lagerunterbringung engagierten sich die Flüchtlinge, die im Oktober 2012 nach Berlin kamen, und errichteten auf dem Oranienplatz ein Protestcamp. Seither ist das Lager zum Symbol ihres Kampfes gegen die Ungerechtigkeit im Asylsystem geworden.
Viel geändert hat sich jedoch nicht. Die Zelte wirken einsam und verlassen. Die meisten Menschen huschen daran schnell vorbei, ohne sie groß zu beachten. Ich will darin keine mangelnde Solidarität vermuten, es regnet ja noch. Dennoch nehme ich mir etwas Zeit und lasse meine Gedanken schweifen. Wo ist hier die Weltoffenheit meiner Stadt, die doch sonst gegenwärtig scheint? Wo ist hier das gelebte Europa? Denn die, von der europäischen Asylpolitik diskriminierten, Menschen gehören genauso zur europäischen Gegenwart in Berlin wie ein hier lebender Europäer aus einem der Mitgliedsstaaten.
Europäische Parallelwelten
Wieso wird so häufig mit zweierlei Maß gemessen? Während meine Darstellung eines europäischen Lebens in Berlin überzogen wirkt, ist das Streben nach einem friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben mit Menschen aus außereuropäischen Staaten keineswegs Selbstverständlichkeit für viele meiner Mitbürger. Mitten auf dem Oranienplatz stehend, fühle ich mich weit weg von meinem europäischen Traum. Dieser steht klar im Widerspruch zu der sich mir bietenden Realität.
Daran muss ich am nächsten Tag denken, als versucht wird, Teile des Protestlagers zu räumen. In Berlin finden damit Szenen statt wie in ganz Europa, wenn es um Flüchtlinge geht. Erasmusstudium, internationaler Arbeitsplatz und Ausgrenzung von Minderheiten – typisch europäisch meine Heimat also?
In meiner Vorstellung von Europa müssten die verschiedenen Realitäten zusammengeführt werden. Denn dieser Gegensatz zwischen gewollten und nicht gewollten Neuberlinern macht deutlich: Wer sich wirklich proeuropäisch nennen will, muss auch für die Menschen streiten, die keine europäische Staatsbürgerschaft haben, aber hier leben wollen. Damit hätte Berlin den Titel europäisch, weltoffen und gerecht verdient.
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