Brief an Europa

Brief an Horst Seehofer: Nicht mein Minister

, von  Gesine Weber

Brief an Horst Seehofer: Nicht mein Minister
Demonstration „Seebrücke - schafft sichere Häfen“ in Berlin Foto: Vollformat Berlin / Flickr / Lizenz: CC-BY SA 2.0

Freude über die Zurückführung von Menschen nach Afghanistan, Torpedieren europäischer Lösungen in der Migrationspolitik- Gesine Weber kann sich mit der Politik des Bundesinnenministers nicht identifizieren. Ein kritischer Brief

Sehr geehrter Herr Seehofer,

diese Woche haben Sie Ihrer Freude ganz deutlich Ausdruck verliehen, dass ausgerechnet an ihrem 69. Geburtstag 69 Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden sind. Was für ein phantastisches Geschenk für jemanden, dessen Parolen denen der AfD im Punkt Ausländerfeindlichkeit oftmals leider in nichts nachstehen und dem das Aufzwingen eines erzkonservativen und schlicht abwegigen Heimatverständnisses so wichtig ist, dass der Begriff „Heimat“ jetzt offiziell in der Beschreibung Ihres Ministerpostens vorkommt.

Alles andere als ein Geschenk war diese Zurückführung wohl für die 69 Menschen, die vergangene Woche mit dem Flieger nach Afghanistan zurückgeführt wurden. Sie wissen genau, dass Sie diese Menschen nicht in den Sommerurlaub schicken - oder denken Sie ernsthaft, dass sich die tägliche Angst vor dem Terrorismus der Taliban in der Gluthitze von durchschnittlich 35 Grad so viel besser ertragen lassen? Das Auswärtige Amt warnt ausdrücklich vor Reisen nach Afghanistan, nennt die Sicherheitslage „in großen Teilen des Landes unübersichtlich und nicht vorhersehbar“. Medizinische Versorgung ist kaum gewährleistet, Folter in Gefängnissen in gängige Praxis, und vor allem in den von den Taliban kontrollierten Gebieten ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen an der Tagesordnung. Kurz: Für deutsche Reisende ist Afghanistan die Hölle auf Erden, ein Aufenthalt ein unkalkulierbares Risiko - bei Menschen mit afghanischem Pass freuen Sie sich, wenn der deutsche Staat sie genau dieser Situation durch eine Ausweisung wieder aussetzt. Das ist nicht nur paradox, das ist eine Doppelmoral - und wie Sie diese Doppelmoral zelebrieren, widert mich an.

Aus diesem Grund, Herr Seehofer, sind Sie für mich nicht der Minister meiner Heimat. Die Aufnahme des Begriffs „Heimat“ in Ihr Ministerium dient höchsten Ihrem Ego, positive Auswirkungen hat er wohl keine.

Meine Heimat ist nicht nur Deutschland, sondern auch und vor allem Europa, ich teile die Ideen von Einheit in der Vielfalt und einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Meine Heimat ist ein Deutschland als aktiver Mitgliedstaat einer starken europäischen Union, das sich für genau diese Werte einsetzt - und dazu gehört kein vermeintlicher „Heimat“-Minister, der europäische Lösungen für drängende Fragen der Migration und Flucht zu torpedieren versuchen, um einen Wahlkampf in Bayern zu Gunsten seiner Partei zu beeinflussen. Als Innenminister hätten Sie es in der Hand, Deutschland im Bereich Integration zum Musterschüler Europas zu machen, eine vielfältige, tolerante und starke Zivilgesellschaft zu fördern. Bisher sieht es aber leider so aus, als würden Sie diese Chance nicht nur verstreichen lassen, sondern sie mit Vollgas gegen die Wand fahren. Nein, in Ihrer weißen Männer-Riege im Bundesinnenministerium - es lebe die Vielfalt! - passt es viel besser, ein paar Ängste zu schüren, das Bild des Verfalls des Rechtsstaats zu zementieren, und dazu ein bisschen mehr Skepsis gegen Europa zu streuen.

Im Gegensatz zu Ihnen bin ich ein Kind des Post-Maastricht-Europa: Ich kenne nur ein Europa ohne Grenzen, das zeitgleich ein Europa der grenzenlosen Möglichkeiten und Chancen ist, nicht nur für einzelne Bürger*innen, sondern auch für nachhaltige Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft. Wenn Sie regelrecht feiern, wie Deutschland 69 Menschen in eins der gefährlichsten Länder der Erde abschiebt, wo ihre Menschenrechte nicht mal im Ansatz gewährleistet sind, frage ich mich, dass Sie von der Idee einer Europäischen Union, die auf den Werten von Demokratie und Menschenrechten aufbaut und diese Werte auch nach außen tragen will, eigentlich verstanden haben. Doch Ihr gesamtes Verhalten während der letzten Wochen geht weit über eine äußerst fragwürdige Interpretation der EU hinaus: Wenn Sie mit einseitigen Zurückweisungen von Migrant*innen an der deutschen Grenze drohen, mit deutschen Alleingängen, wenn Sie die Handlungsfähigkeit der EU als Ganzes immer wieder in Frage stellen und den politischen Diskurs mit europakritischen Parolen vergiften, zerstören Sie all das, wofür weitblickende Politiker*innen sich über Jahre mit all ihren Kräften eingesetzt haben. Damit setzen Sie die Zukunft meiner Generation aufs Spiel.

Warum nicht mit Ihren europäischen Kollegen enger zusammenarbeiten, um eine gemeinsame Lösung zu finden? Wahrscheinlich scheint die Zeit im bayrischen Bierzelt für Sie einfach besser investiert zu sein. Das ist fatal, denn die zahlreichen Konflikte und Krisen auf dieser Welt enden nicht, weil Sie die äußerst fragwürdige Praxis von Zurückführungen nach Afghanistan hochhalten und wahrscheinlich am liebsten gleich alle deutschen und innereuropäischen Grenzen dicht machen würden - wer braucht schon Schengen? Im Juni sind laut Zahlen der Vereinten Nationen 692 Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer ertrunken, seit Anfang des Jahres 2018 mehr als 1400 Menschen. Es ist die humanitäre Pflicht von Europäer*innen, diesen Menschen zu helfen, sie aufzunehmen, anstatt darum zu streiten, wo Schiffe mit Geflüchteten anlegen dürfen oder wohin man Menschen an der deutsch-österreichischen Grenze am besten zurückschickt. Aber dafür braucht es eine langfristige und nachhaltige europäische Lösung, damit Europa nicht nur ein sicherer Hafen, sondern auch Ausgangspunkt eines positiven Heimatbegriffes sein kann. Mit Ihnen, Herr Seehofer, sehe ich derzeit allerdings keine dieser Optionen als wahrscheinlich an.

Wo wir schon über Ihren 69. Geburtstag sprechen: In Deutschland gibt es übrigens das Konzept der Rente ab 63. Diesen Zeitpunkt haben Sie verpasst, aber vielleicht sollten Sie darüber nachdenken, ob es für Sie nicht die bessere Option wäre, sich als Rentner den ganzen Tag an der bayrischen Natur und nicht als „Heimat“-Minister an der Zurückführung von Menschen nach Afghanistan zu erfreuen.

Hochachtungsvoll,

Gesine Weber

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