Staaten weltweit stecken tief im Krisenmanagement. Um Gesundheitssysteme vor dem Kollaps zu schützen, müssen Wirtschaft, Kultur und Demokratie ausharren. Viele befürworten die aktuellen Maßnahmen, andere nicht. Fest steht, dass es einen Post-Krisenzustand, eine Zeit nach Corona, geben wird, in der nicht mehr vorrangig Epidemiolog*innen und Ausnahmezuständler*innen das politische Handeln bestimmen werden. Mit der Rückkehr demokratischer Prozesse werden fundamentale Infragestellungen und Wertungen auf der Tagesordnung stehen: Gesellschaften werden sich verändern und das auf tiefgreifende Art und Weise. Zukunftsforscher*innen sprechen bereits heute von der Bifurkation, dem Scheideweg. Corona wird unsere Welt nachhaltig verändern.
Die Debatte um unsere Zukunft zeichnet sich aber umso kontroverser ab, wenn zwischen Ungarn, Frankreich und Schweden derartig unterschiedliche Antworten auf die Krise gefunden werden. Hinzu kommt, dass viele Bürger*innen Europas bereits heute unterschiedlichste Erfahrungen mit der Pandemie machen - und ihnen später noch viel unterschiedlichere Folgen drohen. Die einzige Gemeinsamkeit: Es müssen neue Herausforderungen gemeistert werden. Welche Schlüsse müssen also gezogen werden? Da kommt die von der Europäischen Union (EU) geplante Konferenz zur Zukunft Europas gerade recht. In Bürger*innenversammlungen sollen Empfehlungen ausgearbeitet werden, die dann wiederrum in konkrete Gesetzesvorhaben umgesetzt werden sollen. Wenn die Konferenz in einen Moment der Weichenstellung fällt, dann könnte der europäischen Bürger*innenbeteiligung eine noch nie dagewesene Rolle zuteil kommen: die tatsächliche Neudefinition ihrer zukünftigen Gesellschaften. Das wohl stärkste demokratische Bekenntnis seit der Existenz der Europäischen Union ist zum Greifen nahe.
Auf dem Weg zur Konferenz: Macron stieß vor und von der Leyen folgte
„Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr“ äußerte sich der französische Staatspräsident nicht erst im März 2020, sondern schon 2019. Bereits damals hatte Emmanuel Macron erkannt: Europa durchlaufen strukturelle Defizite, die es mit geballtem Einsatz zu lösen gelten wird. Europa brauche weitreichende Reformen, argumentierte er. Seine Grundforderung: eine „Wiedergeburt“ („Renaissance“) Europas um die Grundwerte Freiheit, Schutz und Fortschritt. Sein ambitioniertes Aktionsprogramm veröffentlichte er damals als Gastbeitrag in 28 führenden Tageszeitungen europäischer Staaten - ein starkes Signal. Darin ging es um zahlreiche Maßnahmen: um den Brexit, um den Schutz europäischer Unternehmen und eben auch um eine sogenannte „Europakonferenz“. Dabei sollten seinen Vorstellungen nach, Vertreter*innen der Institutionen der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten während einer Konferenz die Zukunft Europas verhandeln. Panels mit sozialen Vertreter*innen, Akademiker*innen, Geistlichen und weiteren Teilnehmer*innen der Zivilgesellschaft sollten tabulos diskutieren und Forderungen stellen dürfen - und das in ganz Europa, proklamierte Macron.
Getragen von der guten Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2019 wurde eine solche Konferenz schließlich auch in das Programm der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufgenommen. Letztere schrieb: „Die Menschen müssen im Mittelpunkt unserer gesamten Politik stehen. […] Nur gemeinsam können wir unsere Union von morgen aufbauen.“ Auch ihre Idee: die Sorgen, Erwartungen und Hoffnungen der Europäer*innen direkt in die europäischen Institutionen schleusen und somit gemeinsam die Prioritäten für das Handeln der EU festzulegen. Ein Vorschlag, der in Zeiten der Pandemieeigentlich kaum gelegener kommen könnte.
Grundlegende Neudefinition europäischer Gesellschaften
Für den 9. Mai 2020, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, war die Konferenz angesetzt. Auch wenn die Ausführung der Konferenz jetzt in der Schwebe steht und die Modalitäten weitreichend angepasst werden müssten, um sie trotz angesichts der Pandemie notwendigen Maßnahmen zu ermöglichen, könnte der Grundgedanke kaum passender sein: Wenn eine tiefgreifende Rezession, eine sich verschärfende soziale Spaltung und womöglich noch unabsehbare gesundheitliche Langzeitschäden der Pandemie sich abzeichnen, darf Bürger*innenbeteiligung keine bloße Vorzeigemaßnahme ohne konkrete Umsetzung sein. Anderenfalls drohen Politikverdrossenheit und eine Überhandnahme der politischen Extreme – eine Situation, die sich bereits in Italien und anderen Mitgliedstaaten bildet.
Dies könnt auch insofern nützlich sein, als dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen gerade noch gar nicht allumfassend greifbar sind und es noch lange brauchen wird, sie zu begreifen. In der Zwischenzeit wird ein politisches Handeln in Europa bereits notwendig werden: Politiker*innen wissen gerade oftmals nicht mehr als Bürger*innen. Dies scheint ein triftiger Grund für eine stärkere Einbindung von Bürger*innen in die demokratischen Prozesse zu sein.
So wie geplant könnte in einem ersten Block der Konferenz über die politischen Entscheidungen der EU debattiert werden. Das heutige Nachdenken über Lieferketten, Grundversorgung, sogenannte „systemrelevante Berufe“ und europäische „Rettungsfonds“ zieht Grundsatzdebatten über neoliberale Gesellschaften, Solidarität und Europa mit sich. Auch die Bewältigung des Klimawandels, die Förderung sozialer Gerechtigkeit und der digitale Wandel werden nach Corona neu verhandelt werden müssen. Auch Best-Practice-Lösungen aus der Krise könnten gesellschaftlichen Entwicklungen neuen Aufwind verleihen.
Europas chronische Krankheiten
In einer zweiten Sparte der Konferenz solle der Schwerpunkt auf institutionellen Fragen und der Gestaltung demokratischer Prozesse liegen, so von der Leyen. Damit könnte die Konferenz ein weiteres strukturelles Problem angehen, das auch in der Krise verdeutlicht wurde: Wie haben die europäischen Institutionen reagiert? Wie effizient waren unsere Frühwarnsysteme? Wie steht es um die Resilienz unserer Demokratien? Auch diese Fragen werden von den Erfahrungen aus der Pandemie genährt und womöglich neu beantwortet werden.
Ähnlich steht es um Formen der Bürger*innenbeteiligung in einem Staatenbund wie der EU. Die Union trifft die aktuelle Krise besonders hart: Die lange Zeit als Vorzeigeprojekt geltende EU purzelt schon seit Jahren von einer Krise in die nächste - von der Bankenkrise, in die sogenannte „Migrationskrise“, über den Brexit und nun in die Coronakrise. Einige Muster blieben jedoch bei allen dieser Krisen gleich: Spaltungen zwischen dem reichen Norden und dem ärmeren Süden, soziale Unruhen, Alleingänge einzelner Nationalstaaten. Menschen, die ohnehin europaskeptisch eingestellt sind, haben in solchen Zeiten besonders leichtes Spiel – so auch die antieuropäischen Parteien in ganz Europa.
Hinzu kommen die „chronischen Legitimitätskrankheiten“ der Union: Sie gilt als undemokratisch. Ihre Politik sei nur unzureichend an die Bürger*innen zurückgekoppelt. Es kämen zu wenig Impulse aus der „breiten Gesellschaft“. Und auch am anderen Ende des politischen Zyklus ist die EU krank: Ihr fehlt die Kapazität, drängende Krisen effektiv zu lösen. Die im Fachjargon als fehlende „Input- und Outputlegitimität“ bezeichneten Defizite könnten durch gezielte Bürger*innenbeteiligung zumindest am Input-Ende des politischen Zyklus angegangen werden.
Kein Allheilmittel, aber ein unersetzliches Zeichen
Wichtige europäische Themen werden in der EU oftmals nicht breit genug debattiert, bevor sie in Brüssel entschieden werden. Vergangene Ereignisse wie das Scheitern der EU-Verfassungsreferenden 2005 in Frankreich und den Niederlanden oder das Brexit-Referendum 2016 können die (langfristigen) Folgen sein.
Bürger*innenbeteiligung ist keineswegs ein Universal-Heilmittel. Es ist auch bei weitem nicht ausreichend. Politiker*innen und weitere Entscheidungsträger*innen bleiben zentrale Akteure. Sie brauchen nur vielfältigere Quellen. Es muss ein offenerer Raum der Kommunikation und Diskussion geschaffen werden. Sich im sanitären Ausnahmezustand vorrangig von Epidemiolog*innen leiten zu lassen, ist nun mal genauso logisch, wie bei der Ausarbeitung politischer Lösungen zivile Vorderungen einzuarbeiten, den Austausch zu fördern. In einer bisher einzigartigen Situation wie der Coronakrise scheint die Diversifikation des politischen Inputs unabdingbar. Wie heute allein bei der Verteilung von Sofortmaßnahmen in Deutschland beobachtet werden kann, muss die Politik konstant nachbessern: Es geht darum, die Lernfähigkeit unserer Systeme nachhaltig zu stärken, Vertrauen in die europäischen Gesellschaften zu fördern und Partizipation in Krisenzeiten neu zu ermöglichen. Ein starkes europäisches Signal ist angesichts der so vielzähligen Divergenzen auch aus rein kommunikativer Sicht mehr als notwendig.
Daneben wäre eine starke Konferenz auch noch ziemlich gerecht Denn wenn im Ausnahmezustand jedes Mittel – auch der Eingriff in das Grundrechtsregister - recht ist, so muss die Rückkehr zu unserer liberalen Gesellschaft mit einem klaren Bekenntnis zu unseren demokratischen Werten begangen werden. Gerade wenn die Folgen dieses Eingriffes uns noch unzählige Jahre begleiten werden. Es wäre auch der tatsächliche Beweis, dass man – zum Beispiel anders als China – tatsächlich zur so oft beschworenen demokratischen Rückkopplung steht. Ganz nebenbei wäre es ein sanfter Anstoß für autoritärere Mitgliedstaaten wie Ungarn.
Politiker*innen, Expert*innen und Entscheidungsträger*innen können heute nicht behaupten, sie wüssten mehr als ihre Bürger*innen: Stattdessen könnten beide von einem verstärkten demokratischen Austausch profitieren. Eine Kluft zwischen den für notwendig erachteten Maßnahmen Brüssels und der restlichen Bevölkerung gilt es unter allen Umständen zu verhindern. Europäische Politiker*innen haben das Projekt selbst Konferenz zur Zukunft Europas genannt: Nun ist der Name Programm. Ihr Wort müssen sie jetzt nur noch halten.
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