Demokratie und Rechtsstaat in Europa

Das autoritäre Drehbuch

, von  Jan Meder

Das autoritäre Drehbuch

Trotz jahrelanger Kritik konnte sich die EU dem tiefgreifenden Umbau von Staat und Gesellschaft in Polen und Ungarn bislang nur begrenzt entgegensetzen. Man darf diese Entwicklung keinesfalls unterschätzen oder sich sogar an sie gewöhnen. Sie stellt eine ernsthafte Gefahr für die politischen und rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union dar.

Es war ein warmer Sommertag im rumänischen Kurort Băile Tuşnad, als der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán auf der Bálványos Summer University 2014 in klaren Worten darlegte, wie er sich den ungarischen Staat in Zukunft vorstellt. Auf einer Festivalbühne vor gemischtem Publikum sprach Orbán darüber, wie sich die weltpolitische Lage verändere. Er wies auf den Erfolg von Staaten hin, die „nicht westlich, nicht liberal […] und eventuell nicht einmal demokratisch“ seien, und behauptete, die westlichen Demokratien wären einem zunehmenden Wettbewerb zwischen Staaten nicht gewachsen. Daraus zog er den Schluss: „Das bedeutet, dass wir mit liberalen Prinzipien sowie Methoden der gesellschaftlichen Organisation und ganz allgemein auch mit dem liberalen Verständnis von Gesellschaft brechen müssen.“

Die Regierungen von Ungarn und Polen verfolgen eine langfristige Strategie

Die grundlegende Botschaft von Orbáns Rede ist nicht bahnbrechend neu. Sie zeigt aber einen wesentlichen Punkt auf: Wenn man über die betreffenden Reformen und politischen Manöver der letzten 9 Jahre in Ungarn spricht, dann geht es nicht um einzelne Handlungen einer Regierung, die hier und da versucht, ihre Macht im Rahmen eines demokratischen Verfassungsstaats auszudehnen, wie er sich im westlichen Europa insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Es geht vielmehr um einen langfristigen Plan mit dem offen verfolgten Ziel, diesen Rahmen aufzubrechen und durch einen anderen zu ersetzen: durch das, was Orbán „illiberale Demokratie“ nennt.

Das ist auch in Polen nicht anders, obwohl es die Regierung dort vermeidet, ihr angestrebtes politisches Modell mit einem konkreten Begriff zu verbinden. Bereits in einer kurzen Regierungszeit zwischen 2005 und 2007 wollte die PiS die aktuelle Dritte Polnische Republik zu einer „Vierten Republik“ umbauen und grenzt sich mittlerweile an das Narrativ der ungarischen Regierung anknüpfend ebenso von „liberaler“ Demokratie ab. Den generellen Vorbildcharakter Ungarns für den eigenen Umbau von Staat und Gesellschaft hat der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński schon früh und mehrfach betont. Nachdem die PiS die polnischen Parlamentswahlen 2011 verloren hatte, zog Kaczyński eine Parallele zu den Entwicklungen in Ungarn und zeigte sich gewiss: „der Tag wird kommen, an dem wir Budapest in Warschau haben“.

Schritt für Schritt werden gezielt demokratische Kontrollmechanismen abgebaut

Unterschiede in der Rhetorik oder in Details der Vorgehensweise ändern nichts daran, dass die Regierungen in Warschau und Budapest grundsätzlich nach gleichem Muster vorgehen und dabei gezielt die demokratische Kontrolle im jeweiligen politischen System schwächen. Sie folgen einem erstaunlich erfolgreichen autoritären Drehbuch: In beiden Fällen leiteten die jeweiligen Regierungsparteien – Fidesz in Ungarn und PiS in Polen – aus gewonnenen Parlamentswahlen die beinahe unbeschränkte Legitimation für weitgreifende Veränderungen in Staat und Gesellschaft ab. Die gewonnene gesetzgeberische Macht nutzen sie dazu, schrittweise das Netz aus Institutionen zu beschneiden, das eine Konzentration von politischer Macht eigentlich verhindern soll. Zentral ist dabei der Angriff auf die Verfassungsgerichte und die Justiz insgesamt.

In Ungarn gewann die Fidesz bei den Wahlen 2010 eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und begann sofort damit, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Zusammen mit weiteren bis 2013 beschlossenen Verfassungsänderungen wurde das Verfassungsgericht deutlich geschwächt. Zum Beispiel darf es Verfassungsänderungen nicht mehr inhaltlich prüfen, sondern nur noch ihr rechtmäßiges Zustandekommen. Ebenso wurde ihm in den meisten Fällen die Kompetenz entzogen, zu Haushalt oder Steuern zu urteilen. Die Zahl der Verfassungsrichter*innen wurde erhöht und ihre Wahl so abgeändert, dass die damalige Regierungsmehrheit im Parlament 11 der 15 Richter*innen alleine bestimmen konnte.

Die PiS in Polen errang mit dem Wahlsieg 2015 keine verfassungsändernde Mehrheit und ging auf andere Weise gegen das polnische Verfassungsgericht vor. Im Streit mit der scheidenden Parlamentsmehrheit um die Nachbesetzung mehrerer Verfassungsrichter*innen erklärte die neue PiS-Mehrheit eigenmächtig fünf vorherige umstrittene Nominierungen für ungültig, besetzte diese Richter*innen neu und ignorierte Urteile des Verfassungsgerichts zum Streitfall. Zusätzlich wurde das Gesetz über die Arbeitsweise des Verfassungsgerichts so geändert, dass es Urteile in voller Besetzung und mit einer Zweidrittelmehrheit treffen muss, wobei Klagen in der Reihenfolge des Eingangs abzuarbeiten sind. Mit den neuen Vorgaben wurde es dem Verfassungsgericht erschwert, in dringenden Fällen zu entscheiden, stattdessen konnte es wirksam blockiert werden.

In einem zweiten Schritt wurde in beiden Ländern die Unabhängigkeit von öffentlich-rechtlichen Medien sowie Institutionen der Kultur und der Bildung geschwächt. Ungarn führte Ende 2010 ein von der OSZE stark kritisiertes Mediengesetz ein. Dieses verpflichtete öffentlich-rechtliche Medien zur „Stärkung der nationalen Identität“ und schuf daneben eine von Regierungsvertreter*innen besetzte Aufsichtsinstitution mit weitreichenden Befugnissen. Soweit der ungarische Staat Zugriff im kulturellen Bereich hat, wurden außerdem reihenweise leitende Personen wie Generaldirektor*innen und Chefdirigent*innen mit Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung von Kultureinrichtungen ausgetauscht.

Ähnlich ging auch die PiS vor. Ende 2015 wurde ein Gesetz beschlossen, das es dem Finanzminister selbst erlaubte, Aufsichtsräte und Vorstände der öffentlich-rechtlichen Medien zu bestimmen. Ein neugeschaffener „Nationaler Medienrat“, in dem drei der fünf Mitglieder von der Regierung bestimmt werden, beaufsichtigt den öffentlich-rechtlichen Rundfunk inhaltlich und personell. In der Folge wurden über hundert Journalist*innen entlassen. Auch bei kulturellen Einrichtungen in Polen wurden leitende Personen ausgetauscht und Programmatik sowie Kulturförderung neu ausgerichtet. Die Bildungsreform 2016 passte zudem die Lehrpläne an, sodass nun neben einem allgemeinen Ziel der Erziehung zum „Geist der Verantwortung“ gegenüber dem Gemeinwohl ein stark nationalistisch geprägtes Geschichts- und Weltbild sowie die „Entwicklung einer patriotischen Einstellung“ im Vordergrund der geschichtlichen und politischen Bildung stehen.

Im Folgenden dehnten die Regierungen ihren Einfluss auf die restliche Justiz aus. Während es in Ungarn im Kontext der Verfassungsänderungen bereits Kritik an der wachsenden Kontrolle der Regierung gab, hat sich die Situation zuletzt mit noch weitergehenden Reformen und dem Ausüben politischen Drucks auf Richter*innen verschlimmert. In Polen wiederum wurde 2017 und 2018 eine Justizreform durchgeführt, welche unter anderem die Wahl der Richter*Innen am Obersten Gerichtshof vollständig in die Hand des Parlaments legte und die dem nunmehr in einer Person vereinten Justizminister und Generalstaatsanwalt die Befugnis gibt, Gerichtspräsident*innen im ganzen Land auszutauschen.

Die Reformen bewegen beide Länder auf den Grenzbereich zum autoritären Regime zu

Auf diese Weise wurde in beiden Ländern die Macht nach und nach in Regierung und Parlamentsmehrheit konzentriert und zunehmend der unabhängigen Kontrolle durch die Justiz entzogen. Daneben wurde der politische Wettbewerb erschwert. Über den erweiterten Einfluss auf Medien und Kultur stellten die Regierungen sicher, dass ihre gewünschte Sichtweise in der öffentlichen Debatte stark vertreten ist und daher die Akzeptanz der Bevölkerung für ihr Handeln hoch bleibt. Private zivilgesellschaftliche Akteure, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen, werden nicht verboten oder verfolgt, sodass grundsätzlich eine freie Zivilgesellschaft erhalten bleibt. Ihre Arbeit wird aber insbesondere in Ungarn durch kleinteilige Maßnahmen erschwert und stärker durch den Staat kontrolliert.

Im Ergebnis werden gesellschaftlicher Pluralismus und die Gewaltenteilung nicht vollständig aufgehoben, aber empfindlich eingeschränkt. Bei näherem Hinschauen ist die vollendete „illiberale Demokratie“ deshalb kaum mehr als ein Etikett für etwas, das man auch „entkernte Demokratie“ nennen könnte: eine Regierungsform im Graubereich zwischen Demokratie und autoritärem Regime. Dabei bleibt vordergründig der demokratische Staatsaufbau mit entsprechenden Institutionen und Wahlen bestehen, die Regierung übt aber eine zentralere, kaum eingeschränkte Macht im Staat aus. Über staatliche Instrumente wird zudem im Namen eines höheren, „nationalen Wohls“ die (Zivil-)Gesellschaft in engeren Bahnen gelenkt und der gesellschaftliche Pluralismus zu diesem Zweck eingeschränkt.

Der „illiberale“ Staatsumbau greift Grundlagen der Europäischen Union an

Das Drehbuch zum „illiberalen“ Umbau ist deshalb so gefährlich und tückisch, weil es sich nicht auf einen Schlag entfaltet, sondern Schritt für Schritt. Dabei berufen sich Ungarn und Polen oftmals darauf, dass es einzeln betrachtet ähnliche Maßnahmen und Reformen auch in anderen EU-Mitgliedstaaten gibt. Das ist in manchen Fällen richtig, lenkt aber bewusst davon ab, dass es nicht einzelne Maßnahmen, sondern gerade das Zusammenspiel und die große Anzahl der systematischen Veränderungen sind, die den Staat in Ungarn und Polen am Ende zunehmend autoritär machen.

Das alles ist keinesfalls eine rein innere Angelegenheit einzelner Mitgliedstaaten. Was Rechtsstaatlichkeit und Demokratie angeht, hätten es sowohl der ungarische als auch der polnische Staat in ihrem heutigen Zustand schwer, EU-Mitglied zu werden, wären sie es nicht bereits. Das hat bereits zu Problemen geführt und wird es weiterhin tun. Die europäische Rechtsgemeinschaft etwa funktioniert nur, wenn zwischen den Mitgliedstaaten das gegenseitige Vertrauen besteht, dass grundlegende Standards ähnlich interpretiert und gemeinsame Regeln eingehalten werden. Wenn ernsthafte Zweifel an Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz in einem Land bestehen, wächst die Gefahr, dass dortige Urteile und Rechtsprechung von anderen EU-Staaten nicht akzeptiert werden und auch das Vertrauen in die Umsetzung von europäischem Recht schwindet. Letztes Jahr konnte man einen Vorgeschmack darauf bekommen, als der irische High Court es mit Verweis auf Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Polen ablehnte, einen Haftbefehl der polnischen Justiz auszuführen.

Außenpolitisch verliert die EU an Glaubwürdigkeit und Einfluss, wenn sie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Drittstaaten fördert und einfordert, sie aber bei eigenen Mitgliedstaaten nicht durchsetzen kann. Und innerhalb der EU könnte das Beispiel Polens und Ungarns in Zukunft politisch destabilisierend wirken. Andere Mitgliedstaaten könnten früher oder später ebenso der autoritären Versuchung erliegen und Beitrittskandidaten könnten auf die Idee kommen, ihre Reformen zu Rechtsstaat und Demokratie weniger ordentlich und nachhaltig zu gestalten – im Bewusstsein, dass man ja durchaus eine ganze Menge wieder zurückdrehen kann, wenn man erst einmal in die EU aufgenommen worden ist.

Es ist also Zeit, dass die EU und auch die anderen Mitgliedstaaten Ernst machen mit dem Schutz von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Übrigens gilt das nicht nur in Bezug auf Ungarn und Polen und langfristig nicht nur in Bezug auf den östlichen Teil der EU. Denn Rechtsstaat und Demokratie sind keine beliebigen Begriffe, sondern gerade im Kontext europäischer Geschichte mühsam erkämpfte Fortschritte. Mittlerweile geht es darum, sie als Grundlagen der Europäischen Union zu erhalten und für die Zukunft zu festigen.

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