Das Kopenhagen-Dilemma

, von  Felix Brannaschk

Das Kopenhagen-Dilemma
Jarosław Kaczyński, Chef der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). © Piotr Drabik / Flickr/ CC BY 2.0-Lizenz

Nicht erst seit der Regierungsübernahme durch die PiS-Partei in Polen und deren Ausschaltung des Verfassungsgerichts wird in der Europäischen Union darüber diskutiert, wie mit Mitgliedstaaten umzugehen ist, die die gemeinsamen europäischen Werte, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, missachten. Mit gewisser Ratlosigkeit schaut man schließlich schon seit 2010 auf den „Reformeifer“ Viktor Orbáns in Ungarn. Beide Länder stehen für das sogenannte Kopenhagen-Dilemma.

Vor dem EU-Beitritt muss ein Land die Kopenhagen-Kriterien erfüllen, zu denen das eindeutige Bekenntnis zu den fundamentalen europäischen Werten, niedergeschrieben in Art. 2 EUV, gehört. Was geschieht aber, wenn nach dem Beitritt die Regierung eines Mitgliedstaats davon nichts mehr wissen will? Schließlich geht es bei der Verletzung dieser fundamentaler Werte an die Substanz der EU. Im Folgenden soll ein kurzer Blick auf die bisherigen Mechanismen geworfen werden, um dann auf die aktuellen Diskussionen im Europäischen Parlament zu dieser Frage einzugehen.

Die unscharfe „Atombombe“

Um solchen Tendenzen in einem Mitgliedstaat der EU frühzeitig zu begegnen, rief die EU-Kommission im Jahr 2014 den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus ins Leben. Die Intension dieses Frühwarnmechanismus liegt darin, mit Regierungen in einen konstruktiven Dialog zu treten, bei denen zumindest der Verdacht eines Eingriffs in die Funktion des Rechtsstaats besteht. Erstmals wurde er Anfang dieses Jahres in Bezug auf Polen aktiviert. Vorgeschaltet ist er dem Verfahren nach Art. 7 EUV: der sogenannten „Atombombe“. Danach kann - nach einem langen Vorverfahren - der Europäische Rat eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte feststellen und dem Mitgliedstaat per einstimmigem Beschluss das Stimmrecht entziehen. Es ist die Höchststraffe, die die EU-Verträge vorsieht.

All diese Mechanismen haben sicherlich gute Ansätze – in der Praxis funktionieren sie nur nicht. Der von der Kommission eingeführte Mechanismus ist zahnlos und zudem höchst umstritten, da er auf keiner Rechtsgrundlage basiert. Das Sanktionsverfahren hingegen ist in dem Moment ausgehebelt, wenn sich nur ein weiterer Staat findet, der das Sanktionsverfahren nicht mittragen möchte. Kaczyński und Orbán haben sich dieser gegenseitigen Unterstützung bereits versichert.

Die Rolle des Europäischen Parlaments

Viele Abgeordnete des Europäischen Parlaments wollen dieser Ohnmacht etwas entgegensetzen. Kürzlich präsentierten die Berichterstatter der Fraktionen dazu erste Vorschläge. Dabei lassen sich drei Richtungen erkennen: Am weitesten dürfte der Vorschlag der Linksfraktion GUE/NGL gehen, der teilweise auch von der liberalen ALDE und von der Fraktion Europa der Freiheit und direkten Demokratie (EFDD) vertreten wird, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) verstärkt ins Spiel zu bringen. Ziel ist es, standardisiert per Vertragsverletzungsverfahren Verstöße gegen die europäischen Werte und Grundrechte durch den EuGH ahnden zu lassen. Dies brächte den Vorteil einer Entpolitisierung mit sich. Dafür müssten jedoch die Verträge geändert werden, um die Jurisdiktion des EuGH auf die Grundrechtecharta und den Wertekanon aus Art. 2 EUV auszuweiten. Problematisch ist nur, dass zurzeit kaum ein Mitgliedsstaat an Vertragsänderungen Interesse zeigt.

Etwas abgeschwächter sind die Vorschläge der Sozialdemokraten (S&D) und ALDE. Sie favorisieren eine Lösung ohne Vertragsänderung und damit eine informellere Variante: So soll laut S&D ein in der Europäischen Grundrechteagentur (FRA) angesiedelter Ständiger Ausschuss unabhängiger Experten regelmäßig die Rechtsstaatssituation in den Mitgliedstaaten überprüfen. Die ALDE schlägt einen Pakt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte vor, der alle bestehenden Rechtsstaats- und Grundrechtemechanismen (z.B. Justizbarometer, FRA) bündelt. Ein jährlich veröffentlichter Anzeiger soll dann als Grundlage für eine breite paneuropäische Diskussion über Rechtsstaatlichkeit dienen. Beide Initiativen sind sicher von gutem Willen getragen, doch gehen sie kaum über die schon vorhandene Diskussions- und Konsultationsverfahren hinaus.

Die anderen Fraktionen werden erst gar nicht konkret. Die Grünen werfen lediglich bekannte rechtliche und politische Fragen auf, wohingegen sich der Vorschlag der Europäischen Volkspartei in einer ausführlichen Beschreibung guter Regierungsführung erschöpft, die es zu beachten gilt. Es drängt sich der Verdacht auf, dass wieder einmal großzügig Rücksicht auf die Fidesz-Abgeordneten in den eigenen Reihen genommen wird.

Bis jetzt ist nichts entschieden

Das Parlament wird es schwer haben, sich auf einen neues Verfahren zu einigen, von dem es anschließend noch die Mitgliedstaaten überzeugen müsste. Es bleibt auch zu befürchten, dass sich die Kaczyńskis und Orbáns von weiteren Konsultationsverfahren wenig beeindrucken lassen. Ein vorübergehender Mittelweg könnte sein, den EuGH von außen darin zu bestärken, die EU-Verträge etwas extensiver auszulegen und so innerstaatliche Rechtsstaatsfragen auf europäischer Ebene zu behandeln. Allen Beteiligten muss aber klar sein, dass langfristig der EuGH die grundsätzliche politische Entscheidung zum Umgang mit Mitgliedstaaten, die die europäischen Werte missachten, dem Europäischen Rat nicht abnehmen kann.

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