Es besteht kein Zweifel daran, dass der Ausgang des Referendums mit einer Mehrheit von 51,9 Prozent für den Brexit die Europäische Union tief erschüttert hat. Die meisten Beobachter und auch britische Buchmacher waren sich zuvor sicher, dass es für ein Brexit-Votum keine Mehrheit geben wird. Die Verhandlungen, die seit Juni 2017 geführt werden und lange von Zögern und häufigem Sandkastenverhalten beider Seiten geprägt waren, haben nun erste konkrete Ergebnisse hervorgebracht. Der Brexit-Minister David Davis und der EU-Verhandlungsführer Michael Barnier einigten sich in Brüssel auf eine Übergangsphase von 1,5 Jahren, in denen die Briten auch nach dem Brexit noch dem Binnenmarkt angehören sollen. In Kürze sollen auch die Leitlinien veröffentlicht werden, die Brüssels rote Linien in den Verhandlungen verdeutlichen und somit für mehr Klarheit sorgen sollen. Wichtige Punkte wie etwa die irisch-nordirische Grenzfrage bleiben dagegen weiter ungeklärt.
Populisten in Europa warten nur auf Fehler bei den Verhandlungen
Für die EU ist es von entscheidender Bedeutung, das richtige Maß zwischen angebrachter Kooperation und Partnerschaft mit einem neu-geordneten Großbritannien und einer gewissen Härte zu finden, die deutlich macht, dass ein Austritt aus der Europäischen Union auch deutlich spürbare Konsequenzen hat. Die jüngsten britischen Charmeoffensiven hinsichtlich entscheidender Zugeständnisse beim Binnenmarktzugang dürfen nicht dazu führen, dass die Folgen des Brexit harmlos bleiben. Und das nicht etwa aus Trotz oder Missgunst gegenüber der royalen Insel, sondern aus Weitsicht: Eine milde Trennung hätte unmittelbaren Einfluss auf jene Abspaltungstendenzen, die auch in Kontinentaleuropa nach wie vor Konjunktur haben. In den Niederlanden verfolgt Geert Wilders das Ziel, ein Referendum nach britischem Vorbild abzuhalten. In Frankreich, das nun erneut einen islamistischen Terroranschlag aufarbeiten muss, macht Marine Le Pen, die sich wegen islamfeindlicher Hetze schon vor Gericht verantworten musste, weiter Stimmung gegen eine Verteilung von Flüchtlingen. Diese stößt auch vor allem bei den östlichen Mitgliedsstaaten wie Polen, Ungarn oder Tschechien auf Kritik. Tschechiens Ex-Präsident Vaclav Klaus trat bereits einmal auf einem AfD-Parteitag in Stuttgart auf, und der kürzlich gewählte neue Präsident Zeman kokettierte öffentlich mit einem Referendum, das einen „Czexit“ zur Folge haben könnte.
Wirtschaftsbeziehungen zwischen EU und Großbritannien nicht beschädigen
Der Brexit kam aber nicht allein aufgrund dieser Debatte ins Rollen. Vielerorts sind die Gründe für den Austritt ökonomischer und identitärer Natur. Vor allem die einheimischen Fischer an den Küsten klagten über Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen europäischen Fischern vor der Küste Großbritanniens Fische fangen dürfen. Die „Leave“-Kampagne unter Nigel Farage kritisierte zudem gerne die Arbeiterfreizügigkeit, die dazu führe, dass viele Briten keine Jobs mehr fänden, weil stattdessen Polen und andere Arbeitskräfte diese Jobs bekämen. Dazu kam zu einem nicht unerheblichen Teil auch der britische Stolz auf die eigene Nation, das alte „Empire“, das sich zunehmend von Brüssel so stark umarmt fühlte, dass es sich erdrückt fühlte.
Die Wirtschaftsmacht Großbritanniens ist keineswegs kleinzureden. Wie am britischen BIP von rund 2,5 Billionen US-Dollar und der Herkunft von Branchenriesen wie der Großbank HSBC oder dem Mobilfunkkonzern Vodafone zu erkennen ist, hat die britische Wirtschaft auch viel Einfluss auf Europa. Die EU kann sich nicht einfach zurücklehnen und auf ein gutes Ergebnis hoffen, wenn sie lange hart bleibt. Sie darf auch keine Genugtuung kommunizieren – dafür wäre ihr eigenes Interesse an einem starken Großbritannien und an dem Fortbestand eines verlässlichen Partners zu groß. Vielmehr müssten der britischen Regierung auch konstruktive Vorschläge zur Wohlstandssicherung gemacht werden. Oder anders gesagt: Bei aller Entschlossenheit der EU muss die Balance zwischen Konsequenzen und Chancen aus dem Brexit stimmen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist das kürzlich in Aussicht gestellte EU-UK Freihandelsabkommen.
Brexit als Realität anerkennen
In Großbritannien steckt das Wort Groß – und Viele sehnen sich auch nach der einstigen Stärke des „Empire“ zurück. Die offen zugegebene Andersartigkeit gegenüber dem Rest Europas, die sich nicht zuletzt in dem Votum widergespiegelt hat, wurde in der Remain-Kampagne mit Erfolg eingesetzt. Schon historisch gab es seit dem EU-Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EWG 1973 häufig Kontroversen. Die in der Präambel des EU-Vertrags anvisierte „immer enger werdende Union der Völker Europas“ wurde eher abgelehnt. Angesichts dessen könnte vom Brexit auch ein Neustart für die europäische Idee ausgehen. Der Katzenjammer über den Brexit jedenfalls muss aufhören.
Und dennoch: Ein zweites Referendum, das bereits mehrfach vergeblich von denjenigen gefordert wurde, die den EU-Austritt noch verhindern wollen, erscheint aktuell nicht mehr gänzlich unrealistisch. Grund dafür ist der ehemalige Ukip-Wortführer Nigel Farage selbst, der sich von einem erneuten Referendum verspricht, dass noch mehr Briten gegen einen EU-Verbleib stimmen würden als beim letzten Mal. Auch Ex-Premier Tony Blair wünscht sich eine erneute Abstimmung, hofft aber wie viele überzeugte Europäer auf ein Ergebnis pro Europa. Fest steht bis jetzt nur, dass das ewige Hin- und Her auch die Unsicherheit an den Märkten verstärkt, für die das bekannte Credo gilt: Unsicherheit ist Gift für den Markt. Es ist an der Zeit, die Romantik beiseite zu legen und den Brexit als Realität anzuerkennen. Wenn das gelingt, werden beide Seiten in der Lage sein, die richtigen Schlüsse aus ihm zu ziehen.
Kommentare verfolgen: |