Es ist Montagmorgen an der Babeş-Bolyai Universität in Cluj-Napoca, Rumänien. Am Tag zuvor wurde ein neues Parlament im Land gewählt. In einer deutschen Politikvorlesung wären die Wahlergebnisse am Tag nach den Bundestagswahlen Gesprächsthema Nummer eins unter den Studierenden.
Nun befinden sich die rumänischen Studierenden nicht in einem Vorlesungssaal, sondern in einem Online-Zoom Meeting. Es ist auch kein Politikkurs, sondern es handelt sich um den Kurs interkulturelle Kommunikation im deutschen Fachbereich Kommunikationswissenschaften: 15 Rumän*innen und zwei Deutsche sind online, eine ist Austauschstudentin. Der Kurstitel erweckt den Eindruck, dass hier energisch über kulturelle Besonderheiten zwischen Deutschland und Rumänien diskutiert wird, so stellt sich das die Dozentin Veronica Câmpian jedenfalls vor. Stattdessen herrscht Schweigen im Kurs. Ein Schweigen, das für die fundamentalen Unterschiede in der Kultur Deutschlands und Rumäniens stehen könnte, die in diesem Kurs besprochen werden sollen:
Auf der einen Seite steht das postkommunistische Rumänien, das noch heute extrem mit Korruption und Nepotismus zu kämpfen hat. Lediglich 33 Prozent der wahlberechtigten Rumän*innen haben bei der Wahl ihre Stimme abgeben, ein historisches Tief. Im Kurs interkulturelle Kommunikation betont Veronica Câmpian, dass Rumän*innen immer noch ein Problem damit haben ihre Meinung zu äußern und auch einmal ‘Nein‘ zu sagen. Besonders die Bewohner*innen auf dem Land sind noch sehr traditionell konservativ geprägt. Aberglaube, Institutionen wie Familie, Zusammenhalt und Kirche spielen eine große Rolle. Kollektivismus und Gemeinschaft vor Individuum und Selbstverwirklichung, so Câmpian.
Auf der anderen Seite steht Deutschland mit seiner zentralen Rolle in der Europäischen Union. Ein Land, dem in Rumänien mit viel Respekt begegnet wird. Vielleicht gerade weil Deutschland als effizient und diszipliniert, als rational gilt. Auch der deutschen Jugend wurde lange Zeit Politikverdrossenheit attestiert. In den letzten Jahren hat sich das mit wachsender Protest- und Onlinekultur durchaus umgekehrt. Jugendliche sind Initiatoren und stehen im Mittelpunkt von Bewegungen wie Fridays for Future oder den #Artikel13 Demonstrationen. Sie fordern Seenotrettung und setzen sich mit Rassismus auseinander, diskutieren unterschiedliche Standpunkte auf sozialen Medien. Auch die öffentlichen Debatten beschäftigen sich mit den Rechten von Minderheiten, oder auch der Frage, welchen Raum Feminismus und Genderfragen im Angesicht welt- und wirtschaftspolitischer Diskurse einnehmen sollten.
An diesem Montagmorgen kann man davon ausgehen, dass auch unter den Studierenden einige Nichtwähler*innen sind.
Schimpfwort Politik
„In Rumänien interessieren wir uns nicht für Politik“, man spricht nicht darüber und diskutiert schon gar nicht eigene politische Meinungen mit Freund*innen, Familie und Mitstudent*innen, entgegnet Ioana K.*, Studentin der Kommunikationswissenschaften, nicht in der Vorlesung, sondern erst im privaten Gespräch. Ioana ist Rumänin ungarischer Abstammung, sie spricht vier Sprachen fließend, interessiert sich für Mode, Theater und Videospiele. Gesellschaftliche Phänomene wie beispielsweise „Interracial Couples" oder Schönheitsideale, ja – aber bloß keine Politik. Sie findet, Studierende sollten in ihrer Hausarbeit zur interkulturellen Kommunikation besser kein politisches Thema wählen, das mag man hier nicht so.
Die 34-jährige Politikerin Alexandra Oană sagt im Gespräch mit treffpunkteuropa.de: „Politik gilt hier immer noch als Schimpfwort“. Oană ist stellvertretende Vorsitzende der Partei USR „Save Romania Union“ in Cluj-Napoca, der zweitgrößten Stadt Rumäniens. Die USR ist eine der jüngeren Anti-Establishment Parteien in Rumänien, die das korrupte System in Rumänien reformieren und Rechtsstaatlichkeit etablieren wollen. Bei den Europawahlen 2019 und auch für die Parlamentswahlen 2020 hat sich die USR erstmals mit der pro-europäischen Partei PLUS zur Alianța 2020 USR-PLUS zusammengeschlossen.
Ein Land erkrankt an Korruption
Alexandra Oană erzählt, dass sie genau deswegen der USR beigetreten ist: „Die USR wurde gegründet von Menschen, die sich noch nie zuvor politisch engagiert haben und die ähnliche Werte wie ich vertreten: ein starkes Justizsystem, pro-europäische Orientierung, Korruptionsbekämpfung, Transparenz, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit.“ Man könnte sagen, sie ist Ausdruck einer Bevölkerungsgruppe, die unzufrieden ist mit der demokratischen Stagnation im Land, der anhaltenden Korruption. Aber auch Ausdruck einer gespaltenen Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen EU-orientierte, wohlhabende und gut ausgebildete Bürger*innen aus Städten wie Bukarest, Cluj, Braşov oder Iaşi. Auf der anderen Seite eine konservative Landbevölkerung, vor allem im Süden. Bei den Wahlen am Sonntag holte die Allianz 15.4 Prozent und wird immerhin drittstärkste Kraft. In den großen Städten wird sie vier Mal stärkste Kraft mit Ergebnissen um die 30 Prozent. Dennoch repräsentiert sie nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung: Gemäß der geringen Wahlbeteiligung gaben nur etwa 5 Prozent der rumänischen Bürger*innen der Partei eine Stimme.
Haben die Rumänischen Bürger*innen ihre Stimme verloren?
Normalerweise ist das Grundkonzept von parlamentarischen Demokratien dieses hier: Ich habe als Bürger*in Repräsentant*innen im Parlament sitzen, die meine Stimme vertreten. Und wenn ich unzufrieden mit den Handlungen der Regierung bin, dann kann ich das durch mein Wahlverhalten ausdrücken. Die gewählten Vertreter*innen sind mir gegenüber verantwortlich und ich habe durch meine Stimme ein Mitspracherecht.
Dass in Rumänien die Wahlbeteiligung so gering ist, liegt keinesfalls daran, dass die Mehrheit mit den Handlungen der Regierung zufrieden ist. Im Gegenteil: gerade in den letzten fünf Jahren hat es bemerkenswerte Antikorruptionsproteste gegeben, bei denen beispielsweise unter dem Hashtag #rezist mehrere hunderttausende Bürger*innen gegen Bemühungen der PSD-Regierung, die Strafverfolgung von Korruption zu lockern, demonstriert haben. Vielmehr ist das Vertrauen der Bürger*innen in das Funktionieren von demokratischen Grundprinzipen erodiert. So gaben 2017 zwischen 70 und 77 Prozent der Bevölkerung an, Parteien, Parlament und Regierung nicht mehr zu vertrauen. Zu großen Teilen liegt das an Korruption und dem damit verbundenen Glauben, dass der einzelne und die Bevölkerung an sich die politische Ebene kaum beeinflussen können.
„Viele Menschen, die nach dem Fall des Diktators Nicolae Ceauşescus und dem kommunistischem Regime, ihre Hoffnung nach einem besseren Leben auf die neuen demokratischen Parteien gesetzt haben, wurden sehr enttäuscht und haben sich von der Politik völlig abgekoppelt“, so Oană. Die Leiterin der rumänischen Redaktion der Deutschen Welle, Dana Alexandra Scherle, titelt in ihrem Kommentar zum Wahlergebnis gleichermaßen: Es ist ein „Sieg der Resignation”.
Auch in Deutschland ist das Vertrauen in Parteien mit 29% erschreckend gering, bei Parlament und Regierung steht es etwa fifty-fifty. In Deutschland gingen bei den Bundestagswahlen trotzdem noch 76 Prozent wählen. Das Vertrauen in öffentliche Verwaltung ist in Deutschland noch doppelt so hoch wie in Rumänien. Die Europäische Ebene steht in Rumänien deutlich besser im Kurs, hier ist 2019 die Wahlbeteiligung mit 52,2 Prozent über dem europäischen Durchschnitt.
Demokratie in Rumänien am Ende?
In Rumänien ist die Wahlbeteiligung nicht bei jenen am niedrigsten, welche die gesamte politische Entwicklung seit den 1980er erlebt haben, sondern unter den 18 bis 24-Jährigen. Der rumänische Influencer Mircea Bravo vermittelt das in einem Video zur Europawahl 2019 so: Während ältere Generationen noch die Unfreiheit des kommunistischen Regimes erlebt haben und dadurch Teilhabe an Wahlen noch eher als wichtig erachten, fehlt es großen Teilen der Jugend an diesem Problembewusstsein. Daraus ergibt sich: Wenn das so bleiben sollte, ist die Zukunft der Demokratie in Rumänien durchaus gefährdet, und damit auch Rumäniens Anerkennung in der EU. Das System legt jungen Erwachsenen durchaus Hürden in den Weg, an den Wahlen teilzunehmen. Briefwahl gibt es im rumänischen Inland nicht. Für Studierende, die ihren Hauptwohnsitz noch bei ihren Eltern haben, macht das eine Wahlteilnahme kompliziert, sie müssten für die Wahl extra nach Hause fahren.
Raum für Optimismus
Alexandra Oană ist hoffnungsvoll. Einerseits sieht sie, dass Politik im privaten und öffentlichen Raum noch ein großes Tabuthema ist. Dabei erzählt sie, dass es „vielen jungen Menschen und den Rumän*innen im Allgemeinen immer noch unangenehm ist, öffentlich auszusprechen, dass sie sich für Politik interessieren oder, dass sie die eine oder andere Partei aktiv unterstützen.“ Das wird auch von einer Studie der Friedrich Ebert Stiftung 2018/2019 widergespiegelt, wonach nur 25% der befragten Jugendlichen angegeben haben sich mindestens in einer Form politisch engagiert zu haben. Zur Auswahl standen Proteste, Petitionen, Freiwilligenarbeit, Parteiarbeit, Boykotte und auch Online-Partizipation. Andererseits spricht Oană neuen progressiven Parteien wie der USR und deren politischem Engagement auf sozialen Medien eine große Chance zu, junge Menschen anzusprechen und wieder für Politik zu gewinnen.
Rareş (24): jung, pragmatisch, pro-europäisch
Eine solche junge Stimme ist jene von Rareş Gherasim. Rareş ist 1996 in einer Kleinstadt, die 100 Kilometer von Cluj entfernt ist, geboren. Aktuell ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt und studiert im Homeoffice. Den größten Teil seiner Freizeit investiert er als Präsident des Erasmus Netzwerks (ESN) Cluj Napoca in das Wohlergehen der vielen Hundert Erasmusstudent*innen, die jedes Jahr kommen, um die rumänische Kultur kennenzulernen. Das mangelnde Vertrauen in die Politik und die anhaltende Korruption halten Rareş nicht davon ab, trotzdem wählen zu gehen. „Aus meiner Sicht ist es eine meiner Pflichten zur Gestaltung der Zukunft beizutragen und Fortschritt ohne eine proaktive Haltung nicht möglich“, so Rareş. Er beobachtet, dass sich junge Menschen eher nicht für Politik an sich interessieren, sondern alternative, pragmatischere Wege suchen, um ihre gesellschaftlichen Ziele zu erreichen: „Mit einer korrupten politischen Klasse glaube ich nicht, dass wir uns heutzutage auf eine politische Richtung in Form von Parteien konzentrieren sollten“. Stattdessen setzt die junge Generation eher auf gestärkte Zusammenarbeit um so viele Projekte wie möglich zu verwirklichen. Das ist sein Ansatz in Cluj, der zweitgrößten Stadt Rumäniens, mit starker Europäischer Identität, Bildungseliten und guten Jobchancen. Bereits 25km von der Stadt entfernt sehe das nochmal anders aus, meint Rareş, gerade was die Europäische Identität angeht. Das Stadt-Landgefälle ist in Rumänien gewaltig.
In Cluj spiegelt sich ein Bekenntnis zur Europäischen Union auch im Stadtbild wieder. Foto: zur Verfügung gestellt von Louisa von Essen.
Bildung ohne Politische Bildung?
Der Auftrag an eine neue Regierungskoalition wird auch sein, diese Kluft zu mindern. Bildungschancen können dabei helfen. Stand 2015, werden in Rumänien nur 2.72 Prozent des BIPs in Bildung investiert. Zum Vergleich: In Schweden waren es 7.1 in Deutschland 4.5. Laut der Shell-Jugenstudie 2019 hängt auch in Deutschland das politische Interesse mit dem Bildungsgrad zusammen: Während sich unter Studierenden 66% als politisch interessiert bezeichnen und unter Abiturient*innen jede*r zweite, ist es unter Jugendlichen mit angestrebtem oder erreichtem Hauptschulabschluss nur jede*r vierte.
In Rumänien fehlt selbst jungen Menschen aus privilegierten Schichten grundlegendes Wissen, wie der Staat, die Regierung und öffentliche Verwaltung und Institutionen funktionieren, betont Alexandra Oană. Das liegt unteranderem daran, dass in den Schulcurricular kein politischer Unterricht vorgesehen ist. Schulen können Politik als Wahlfach anbieten, müssen es aber nicht. In einer post-kommunistischen Gesellschaft erklärt das zum Teil, warum sich auch junge Generationen noch mit Meinungsäußerungen und Diskussionskultur schwertun. Warum die Studierenden im Kurs der Kontroverse fernbleiben, lieber schweigen. In Deutschland gilt es immerhin als klares Bildungsziel, die Schüler*innen zu mündigen, kritischen Bürger*innen zu erziehen. So entsteht der Dialog, der Kampf der Ideen, der partizipative Demokratie ausmacht und den man auch in den Vorlesungen zur interkulturellen Kommunikation vergeblich sucht. Auch, wenn es ebenso in Deutschland in den verschiedenen Bundesländern große Unterschiede hinsichtlich des Anteils gibt, den politische Bildung im Lernplan einnimmt.
Eine halbe Stunde ist im Kurs Interkulturelle Kommunikation vergangen, bis die Dozentin die Wahlergebnisse doch thematisiert. Mit den Deutschen im Kurs spricht sie über die Wahlbeteiligung und die demokratische Zukunft Rumäniens, über die junge Generation Rumäniens – ja, indirekt auch über die Studierenden im Kurs. Dabei ist der Standpunkt einer optimistischen Pro-Europäerin: Wenn wir als EU weiter interkulturellen Austausch fördern, Erasmusstudent*innen aus Rumänien andere politische Kulturen kennenlernen, Europäische Identität stärken und die EU gezielt Demokratie-Programme etabliert und fördert, kann auch die Jugend wieder mobilisiert werden. Ihr Fazit: „Wenn wir im Land nicht aufwachen und im Zweifel noch immer Rechtspopulismus unterstützen, dann kann uns auch Europa nicht mehr helfen.“ Ihre mahnenden Worte beenden die Diskussion. Die rumänischen Studierenden verbleiben schweigend.
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