EU-Mercosur

Das „Zu frei“-Handelsabkommen? – Die Wiederbelebung des EU-Mercosur-Deals

, von  Benedikt Rößler

Das „Zu frei“-Handelsabkommen? – Die Wiederbelebung des EU-Mercosur-Deals
Kommissionspräsidentin von der Leyen zu Gesprächen über das Mercosur-Abkommen in Brasilien am 12. Juni 2023 Foto: European Union, 2023 / Dati Bendo / Copyright

Wie lange braucht es eigentlich, bis man ein Handelsabkommen verhandelt hat? Wenn man die EU und den südamerikanischen Wirtschaftsverbund Mercosur fragt, kann man sich dafür gut und gerne über 20 Jahre Zeit lassen. Diesen Sommer soll es jedoch so weit sein, dass die EU und die Mitgliedstaaten des Mercosur – Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay – endgültig ein Freihandelsabkommen unterzeichnen. Doch was bedeutet das eigentlich? Was spricht dafür – und was dagegen?

Wer ist also dieser Mercosur?

Mercosur, eigentlich „Mercado Común del Sur“, bedeutet übersetzt „Gemeinsamer Markt im Süden“ und besteht derzeit aus den vier Gründungsmitgliedern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Venezuela trat 2012 bei, ist allerdings seit 2016 dauerhaft suspendiert. Hinzu kommen noch 7 assoziierte Mitglieder. Der Mercosur selbst besteht seit dem Vertrag von Asunción 1991 als Vereinigung lateinamerikanischer Staaten, die regionale Kooperation auf verschiedenen Ebenen fördern soll. Wie auch bei der EU und deren Vorgängerorganisationen, steht auch beim Mercosur die wirtschaftliche Zusammenarbeit über Grenzen hinweg im Vordergrund. Ziel ist es, die wirtschaftliche Entwicklungsprozesse durch einen gemeinsamen Binnenmarkt mit mehr als 295 Millionen Einwohner*innen zu verbessern, Völkerverständigung zu fördern und als gemeinsamer Binnenmarkt international mit mehr Gewicht auftreten zu können. Konkret baut der Mercosur auf einen freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen zwischen den Ländern, etwa über den Abbau von Zöllen und Tarifen.

Der Mercosur ist wie die EU aber auch ein Projekt der Demokratieförderung. Alle Mercosur-Staaten blicken zurück auf eine Vergangenheit von brutalen Militärdiktaturen in den 1970ern und 1980ern – aber auch auf deren Überwindung durch zivilgesellschaftlichen Protest. Aus diesem Grund dürfen laut dem Protokoll von Ushuaia nur Demokratien Teil des Mercosur sein. Venezuela ist deshalb seit 2016 suspendiert.

Europa und Lateinamerika – eine Geschichte des Un-Freihandels?

Europa und Lateinamerika haben, gerade was die wirtschaftlichen Beziehungen angeht, eine sehr bewegte Geschichte. Seit Kolumbus Karavellen sich auf den Weg über den Atlantik machten, war diese Geschichte vor allem eine der einseitigen wirtschaftlichen und menschlichen Ausbeutung Lateinamerikas durch die europäischen Imperien. Zunächst waren es die spanischen und portugiesischen Könige und deren Handelsleute, die indigene und später auch aus Afrika verschleppte Menschen zur Arbeit in Silberminen und auf Kakaoplantagen zwangen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die meisten lateinamerikanischen Staaten zwar politisch unabhängig. Wirtschaftlich wurden die Länder dennoch weiter informell von europäischem und nordamerikanischem Kapital in sogenannten Exportabhängigkeiten gehalten. Und auch noch im 21. Jahrhundert ist das Verhältnis vieler Menschen in Lateinamerika zum internationalen, von Staaten aus der nördlichen Hemisphäre gestützten, Wirtschaftssystem nicht ohne Grund von Misstrauen geprägt. Die Schuldenkrisen der 1980er und 1990er Jahre und das eigennützige Verhalten internationaler Gläubiger ist vielen noch lebendig im Gedächtnis.

Dennoch sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa tief und haben sich über die Zeit hinweg weiterentwickelt. Die starken Migrationsbewegungen aus Europa im späten 19. und 20. Jahrhundert sorgen auch heute noch für eine enge Verbindung von Menschen in Lateinamerika zu Europa – doppelte Staatsbürgerschaften aufgrund von europäischer Abstammung sind etwa keine Seltenheit. Auch in harten wirtschaftlichen Zahlen sind die Verbindungen stark: 2021 betrug das Handelsvolumen trotz der Pandemie 88,03 Milliarden Euro und in den 10 Jahren zuvor bewegte sich der Handel auf einem ähnlichen Niveau. Darüber hinaus ist die EU seit Jahren einer der größten Handelspartner des Mercosur.

Was würde das Freihandelsabkommen für die Weltwirtschaft bedeuten?

Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur wäre für die Weltwirtschaft eine ziemlich große Sache. Insgesamt würden in einem dann hergestellten Wirtschaftsblock über 770 Millionen Menschen leben – knapp ein Zehntel der Menschheit – und wären gemeinsam für etwa ein Viertel des globalen BIP verantwortlich.

Übersicht der wichtigsten Kennzahlen zu EU und Mercosur
Foto: ednHUB / AFP / Weltbank, IWF / Copyright

Auf dem Parkett der internationalen Wirtschaftspolitik bedeutet dieses Abkommen zudem vor allem für den Mercosur eine Emanzipation von bisherigen wirtschaftlichen Bahnen. In den letzten Jahren intensivierte vor allem China seine Handelsverbindungen mit Lateinamerika, um sich neben wertvollen Rohstoffen auch den Zugang zu den überproduktiven Landwirtschaften zu sichern. Uruguay etwa, der kleinste Mitgliedsstaat des Mercosur, produziert mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern jährlich Lebensmittel für über 30 Millionen Menschen. Durch das Freihandelsabkommen mit der EU würde sich der Mercosur einen lukrativen, aber vor allem weniger volatilen Absatzmarkt für seine Lebensmittel sichern. Zudem emanzipiert sich der Mercosur durch ein solches Abkommen auch stark von der in Lateinamerika immer noch omnipräsenten Wirtschaftsmacht der USA. Sowohl China als auch die USA reagierten in den letzten Monaten mit neuen Offerten für eigene Freihandelsabkommen mit dem Mercosur oder einzelnen Mitgliedsstaaten.

Was bekommt die EU?

Die EU erhofft sich im Großen und Ganzen zweierlei von diesem Freihandelsabkommen. An erster Stelle würde ein solches Abkommen einen riesigen Absatzmarkt für verarbeitete Güter, also Autos, Pharmazieprodukte oder Textilien, aber auch Dienstleistungen aus der EU bieten. Auf diese Produkte stehen derzeit noch hohe Zölle, etwa bis zu 35 % auf Automobile. Zudem sieht sich die EU unter Zugzwang in einem internationalen Wettrennen um Rohstoffe wie das in Argentinien vorkommende Lithium – ein Metall, das aufgrund seiner Bedeutung für die Hochtechnologie mitbestimmend für das 21. Jahrhundert sein wird. Für die EU ist dieses Abkommen also auch eine Suche nach Partnern, die solche Stoffe exportieren.

Was bekommt der Mercosur?

Für den Mercosur sprechen zwei Punkte für ein Freihandelsabkommen. Da die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten stark auf den Export von Gütern – hauptsächlich Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte – ausgelegt sind, bietet sich dem Mercosur mit der EU ein riesiger und vor allem extrem finanzstarker Absatzmarkt für diese Produkte. Im Gegenzug bedeutet ein Freihandelsabkommen auch die Vereinfachung von Direktinvestitionen aus der EU nach Lateinamerika, was einen ökonomischen Boost für angeschlagene Volkswirtschaften wie Argentinien bedeuten könnte. Aber auch das vielversprechende Energiewendeprojekt Uruguays mit einem Fokus auf grünem Wasserstoff könnte davon profitieren.

Die EU-Mercosur-Handelsbeziehungen im Detail
Foto: ednHUB / AFP / Eurostat / Copyright

Ein bisschen zu frei verhandelt?

Doch es gibt nicht nur Lob für das Abkommen und es gibt auch gute Gründe, weshalb seit nunmehr fast 24 Jahren keine finale Einigung gefunden wurde. Bedenken bestehen in drei Kernbereichen: An erster Stelle steht die Befürchtung, dass sich hier eine erneute, ungleiche Wirtschaftsbeziehung zwischen dem kapitalstarken Europa und dem ressourcenreichen Lateinamerika einstellen könnte. Die uruguayische Journalistin und Aktivistin Natalia Carrau prangert etwa an, dass Lateinamerika durch die Importe aus der EU keine eigene, diversifizierte Industrie entwickeln könnte. Stattdessen würde es in einer Situation als Zulieferer von Primärprodukten (Rohstoffe, Agrarprodukte) gefangen und auf den damit eingehenden sozialen und klimatischen Kosten sitzen bleiben. Auf der anderen Seite fürchten auch europäische Landwirtschaftsverbände Einbußen. Vor allem irische und französische Rinderzüchter sehen die günstige Konkurrenz aus Lateinamerika als Gefahr. Der Politikwissenschaftler Ulrich Brand befürchtet, dass auch Europa – statt sich selbst eine krisenresiliente interne Wirtschaft aufzubauen – letztendlich in sozial- und klimaunsichere Versorgungswege investiere. Ziel sollte wenn dann ein Freihandelsabkommen auf Augenhöhe sein, bei dem klar ersichtlich ist, dass sowohl die EU als auch Mercosur in gleichem Maße profitieren.

Der zweite große Kritikpunkt ist das Thema Klima. Mercosur tritt in diesem Freihandelsabkommen zu einem großen Teil als Exporteur von Agrarprodukten auf. Doch eben diese Landwirtschaft ist in ihrer derzeitigen Form ein nicht zu vernachlässigender Treiber des Klimawandels. Die Abholzung von Regenwald für Soja- und Rinderfarmen sowie Wasserknappheit sind reale Gefahren, die durch einen intensivierten Exportabsatz verschlimmert werden könnten. Die Verantwortung liegt hier nicht nur bei den produzierenden Mercosur-Staaten, sondern auch bei den Abnehmer*innen in der EU, auf Umweltstandards zu achten und diese als elementaren Bestandteil in das Freihandelsabkommen aufzunehmen.

In eine ähnliche Kerbe schlagen auch die Bedenken um die Rechte der indigenen Bevölkerungen, vor allem in Brasilien und Argentinien. Zwar hat sich in Lateinamerika viel getan, was die Stellung der Indigenen angeht. Jedoch sind gewaltsamer Landraub und die Entrechtung für Agrar-, Minen- und Industrieprojekte eine tagtägliche Bedrohung für indigene Gemeinschaften. Deshalb müssen in den Verhandlungen explizite und bindende Regelungen dafür getroffen werden.

Kommissionspräsidentin von der Leyen zu Gesprächen über das Mercosur-Abkommen in Argentinien am 13. Juni 2023
Foto: European Union, 2023 / Dati Bendo / Copyright

Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mercosur ist also in jeden Fall umstritten. Derzeit befindet sich das zwischenzeitlich mehr oder weniger komatöse Abkommen in intensiven Nachverhandlungen und eine Einigung wird noch für dieses Jahr erwartet. Vor allem die Klimabedenken und deren Sanktionsmöglichkeiten stehen hier auf der Agenda. Der Plan ist, eine finale Einigung bis zum EU-Lateinamerika-Gipfel im Juli zu finden und dort ein entsprechendes Abkommen zu unterzeichnen. Ob das klappt, bleibt abzuwarten – was sind schon ein paar Monate zu 24 Jahren…

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