Ein Februarmorgen. Kalt und sternenklar war die Nacht im Camp, gelegen zwischen Reihenhaussiedlung, Decathlon und hochmodernem Fussballstadion. Nun scheint die Sonne über den Zelten im Flüchtlingscamp von Dünkirchen, eine leichte Brise Wind weht von der Nordsee herüber. Auf der matschigen Hauptstraße, die den Namen „Queen Elisabeth Street“ trägt, ist schon viel los. Kleine Kinder rennen durch die Pfützen. Auffällig sind all Menschen, die mit ihren Schlafsäcken in den Händen in das Camp zurückkehren. Ihre Gesichter sind traurig. Sie alle haben es nicht geschafft nach England, ins vermeintliche Paradies. Viele haben schon dutzende Fluchtversuche hinter sich, im oder unter einem Lastwagen über die Fähre nach Dover zu kommen. Doch Spürhunde haben sie gefunden, die Polizei hat sie verhaftet und wieder laufen lassen. Nun sind sie wieder da, im Dschungel von Dünkirchen.
Sie werden es wieder versuchen, in der nächsten Nacht. 3000 Pfund und mehr kostet ein Schlepper, der den Menschen in einen LKW hilft. Sie sind schon viele Monate unterwegs, kamen über die Balkanroute und über Deutschland nach Dünkirchen. Manche von ihnen wollten auch in Deutschland bleiben, doch Familie, Freunde oder ein Traum vom besseren Leben ziehen sie ins Vereinigte Königreich. Fast alle in Dünkirchen kommen aus dem Irak, sie sind Kurden und werden vom Islamischen Staat verfolgt. Viele waren in der Heimat Peschmerga-Kämpfer. Auch einige Iraner leben im Camp.
In Frankreich will niemand bleiben
Nun sind sie alle hier und verbringen den Tag mit Warten. Warten auf die nächste Chance, den Kanal zu überqueren. In Frankreich will hier keiner bleiben, der französische Staat kümmert sich nicht. Ein Schild, welches die Stadt aufgehängt hat, trägt Informationen in Englisch, Arabisch, Farsi und Dari. Kurdisch? Fehlanzeige. Nur ein paar Polizisten zeigen am Eingang Präsenz und lassen keinerlei Baumaterialien ins Camp. Auch Lieferungen mit Schlafsäcken werden immer wieder blockiert. Heute dürfen auch „Ärzte ohne Grenzen“ nicht ins Camp. Warum, weiß niemand. Das bedeutet: Keine Duschen und keine medizinische Versorgung. Immerhin werden die 30 Dixi-Klos heute geleert. Wer die Queen Elizabeth Street verlässt begibt sich in knöcheltiefen Matsch, der je nach Regenmenge auch knietief sein kann. Zelte, soweit das Auge reicht. Auf dem aschgrauen Boden stapelt sich Müll.
Hier wohnen 2500 Menschen, darunter viele Familien und Kinder. Es grenzt an ein Wunder, dass bei diesen hygienischen Zuständen noch keine gravierenden Epidemien ausgebrochen sind. Das Camp gibt es schon fast zehn Jahre lang, 100 Geflüchtete lebten hier ungefähr. Doch seit September letzten Jahres ist die Zahl rapide gestiegen. Und sie steigt weiter, auch weil in Calais gerade geräumt wird und viele Kurden somit nach Dünkirchen fliehen.
Wann kommt die nächste Chance?
Bei der Kleiderausgabe am Nachmittag erzählen viele der Männer, dass sie gerade erst angekommen sind. Ali (*alle Namen wurden von der Redaktion geändert) sagt, dass seine Familie im Mittelmeer ertrunken ist. Er selbst schaffte es bis Calais, das nur 50 Kilometer westlich liegt. Doch dort wurden ihm nachts seine letzten Habseligkeiten geklaut. Nun hat er nichts mehr. Nur noch seine Schwester in England. Und Hoffnung, dorthin zu gelangen. Mittlerweile kommen immer mehr Leute mit Baguettes vorbei, auch die Küche hat ihre Pforten geöffnet. Diese wird vom Schweizer Verein Rastplatz mit Hilfe zahlreicher Freiwilliger betrieben. Dort gibt es von 10 Uhr am Morgen bis Mitternacht Essen und Tee. Auch die Schule hat mittlerweile geöffnet, hier versuchen freiwillige Helfer den Kindern spielerisch ein wenig Französisch und Englisch beizubringen. Und so vergeht der Tag. Jogginghosen, Gummistiefel und Jacken sind die begehrtesten Güter im Dschungel. So wurde auch das Camp in Calais genannt. Doch Calais ist vergleichsweise luxuriös: es gibt Kieswege, Läden, eine Moschee und Baracken aus Holz. Auch in Dünkirchen haben die Bewohner Angst vor einer Räumung. Die Furcht davor, Fingerabdrücke abgeben zu müssen ist riesig, obwohl Dünkirchens Bürgermeister versprochen hat, dies nicht zu tun. Ein neues Camp steht schon, 500 Meter entfernt vom jetzigen Dschungel. Dort soll in vier Monaten ein neues ökologisches Stadtviertel entstehen.
Das gemeinsame Ziel: England
Während es dunkel wird, steigen überall im Lager Feuer auf. Der stechende Geruch von verbranntem Kunststoff liegt in der Luft. Die Campbewohner verbrennen aus Mangel an Feuerholz Plastik. Neben den Lagerfeuern fangen Menschen an zu singen. Die Stimmung ist fröhlich, die Lieder handeln von der Heimat und dem Sehnsuchtsort England. In der Küche wird kurdisches Essen - Reis und Linsensuppe - aus riesigen Töpfen gereicht. Gleichzeitig drängen immer mehr Menschen hinein in das Küchenzelt, denn draußen steigt ihnen reizendes Gas in die Augen.
Rawand erzählt, dass es hier sehr gefährlich ist und viele der Bewohner schnell aggressiv werden. Kriminalität ist Alltag hier. Seine Zeltmitbewohner Ako und Karzam sind resigniert. Sie sind seit Monaten hier und haben es immer wieder versucht. Doch sie bieten Tee und Obst an, ihr Zelt ist aufgeräumt und der kleine Gaskocher verbreitet ein bisschen Wärme. Sie erzählen vom Leben in Kurdistan, der eine hat Lehramt studiert, der andere ist Ingenieur. Während Ako und Karzam sprechen, explodiert draußen eine Gasflasche. Es scheint niemanden zu verwundern. In der Ecke des Zeltes sitzt Chema und skypt mit seiner kleinen Nichte. Sie ist noch ein Baby, das tausende Kilometer entfernt unschuldig in die Kamera guckt. Abschließend zeigt Chema sein Facebookprofil. Dort steht, dass er schon in London sei.
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