Die Aussichten der Europäischen Linken

, von  Arthur Moinet , übersetzt von Hannah Luisa Faiß

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Die Aussichten der Europäischen Linken

Die Europäische Linke steckt aktuell in einer ernsthaften Krise. Jan Rovny beleuchtet in einem hervorragenden Artikel namens „Was ist mit der Europäischen Linken passiert?“ die vielen politischen Fehlschläge der sozialdemokratischen Parteien in Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Tschechien oder Griechenland, und zeichnet ihre Beginne bis hin zum Ruck der Parteien Richtung neue Mittelklasse nach, was vom neuen Prekariat hin zu nationalem Protektionismus führte.

Allgemeiner betrachtet sind die aktuellen Schwierigkeiten auch teilweise dem geschuldet, dass effektive Handlungen und Ergebnisse fehlten, wenn sie an der Macht waren. Daher sind inzwischen viele Menschen davon überzeugt, dass die Linke immer daran scheiterte, das alltägliche Leben zu verändern und sich zu sehr von den wirklich wichtigen Themen entfernte.

Laut Rovny bildet sich die politische Sphäre gerade in einer neuen Spaltung zwischen Kosmopolit*innen und Traditionellen heraus, wo die Linke, insbesondere die Sozialdemokratie, graduell verworfen wird.

Da das nun gesagt ist, denke ich, dass die Sozialdemokratie ihre Inspirationsquelle in einem neuen Europäischen Projekt finden muss. Oftmals ist es in Krisensituationen am besten, sich auf das Grundlegende zurückzubesinnen. Historisch betrachtet, verkörpern Sozialismus und Sozialdemokratie internationalistische Werte. Im Gegensatz zu extremistischen Parteien ist das Europäische Konstrukt ein linker Kampf. Daher könnten die anstehenden Europawahlen eine gute Gelegenheit für die Europäische Linke sein, um ihre Werte wieder zum Ausdruck zu bringen.

Nichtsdestotrotz wird das nur möglich sein, wenn sie sich den folgenden drei fundamentalen Grundsätzen verspricht.

1. Die Große Koalition ablehnen und institutionellen Wandel voran bringen

Der erste Punkt für die Europäische Linke und die Partei der Europäischen Sozialisten (PES) sollte es sein, definitiv mit der Europäischen Volkspartei (EPP) zu brechen.

Ich glaube nicht daran, dass diese Koalition eine natürliche Schutzmauer gegen den Populismus bilden soll. Lasst uns nicht vergessen, dass die EPP lange Zeit Viktor Orbán in Ungarn unterstützt hat und er immer noch von vielen Mitgliedern unterstützt wird.

Im Allgemeinen denke ich, dass diese Große Koalition Extremismus eher unterstützt und nährt. Viele Bürger*innen denken, dass Europa keinen Einfluss auf ihr tägliches Leben hat. Aber ist es nicht letztendlich das Ziel der Konservativen, die etablierte Ordnung zu bewahren? Das Spektrum der „progressiven Koalition“, unterstützt von bestimmten Anführer*innen, ergibt nicht allzu viel Sinn: es trägt aber zu Missverständnissen bei den Bürger*innen und zu Extremismus bei.

Nehmen wir das deutsche Beispiel. Die Produktivität der Großen Koalition kam zu einem Ende. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) verliert mit jeder Wahl an Stimmen und auch die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) von Angela Merkel ist zunehmend geschwächt. Es ist verständlich, dass die Bürger*innen denken, ihre Stimme hätte keinen Einfluss auf die politische Ordnung und dann schließlich für den Extremismus stimmen.

In einem sehr interessanten Artikel von Amanda Traub, einer US-amerikanischen Journalistin, wird aufgezeigt, dass ein Deal zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts, die die „building blocks“ der europäischen Stabilität sind, sehr schnell zusammenbrechen könnte wie es beispielsweise in Frankreich, Belgien, Polen, Italien und andernorts passierte.

In der Konsequenz sollten sich die Sozialdemokrat*innen und Sozialist*innen, die gemeinsam in der PES sind, endlich von den Liberalen der EPP trennen. Das wird der einzige Weg für die Partei sein, um den aktuellen Europäischen Status Quo zu beenden und kühn neue Vorschläge zu unterbreiten.

Und auch angesichts einer potentiellen Niederlage denke ich, dass die PES besser in der parlamentarischen Opposition untergebracht wäre als in einer Kommission, in der es ihr an Einfluss fehlt.

Außerdem lehnen die Konservativen eine umfassende Reform der Institutionen ab. Die Europäische Linke muss jetzt eine institutionelle Reform auf den Tisch legen, die eine wirkliche legislative Initiative und eine effektive Aufsichtskontrolle für das Europäische Parlament vorsieht. Viel zu oft wird das Parlament auf eine Absegnungs-Kammer reduziert, während es eigentlich die Europäische Kommission kontrollieren sollte.

Im Gegenteil, das Europäische Parlament sollte über budgetäre und monetäre Vorrechte herrschen. Zum Beispiel könnte es über die zahlreichen ökonomischen Ziele der Union, wie Defizitgrenzen, Inflation etc., abstimmen. Auch sollte das Parlament das Recht auf Untersuchung halten. Die Bürger*innen sollten die Möglichkeit haben davon Gebrauch zu machen: die Europäische Linke sollte in ihrem Manifest stehen haben, dass sie die Vereinfachung des Initiativprozesses von europäischen Bürger*innen anstreben.

Zusätzlich glaube ich, dass die Legislative mehr Legitimität mit einer echten europäischen Wahl erzielen könnte: die Etablierung einer transnationalen Liste könnte sich auf europäische Themen und Herausforderungen konzentrieren und verhindern, dass diese Wahlen von nationalen Themen dominiert werden.

Diese Maßnahme kann ein neuer demokratischer Garant sein, denn viele Expert*innen meinen, dass die EZB zu viel politische Macht angesammelt hat.

Ebenso denke ich, dass es interessant wäre, dem Europäischen Komitee der Regionen und dem Komitee der Wirtschaft und des Sozialen, eine stärkere Rolle zuzusprechen, um einen europäischen sozialen Dialog zu führen.

Und schlussendlich sollte die Europäische Linke darauf drängen, dass endlich einmal ein Europäisches Budget festgesetzt wird, das durch eine effizientere Besteuerung finanziert wird und den Fokus auf Investitionen und regionale Entwicklung setzt.

2. Eine wirklich soziale Gerechtigkeit schaffen

In einem kürzlich erschienen Buch von Stephanie Mudge habe ich gelesen, dass linke Parteien ihre Pflicht aufgegeben haben, die ärmsten Menschen zu beschützen, und damit den Weg für extremistische Parteien frei gemacht haben. Wenn dieser Satz auch hart klingen mag, ist es doch nicht zu leugnen, dass linke Politiker*innen ihn ernst nehmen müssen.

Die Linke muss ihre Position zu Ungleichheiten und sozialer Gerechtigkeit überarbeiten. Die Vorstellungen von Leistung und „fairen Ungleichheiten“ sind zunehmend irrelevant. Ed Miliband, ehemaliger Vorsitzender der Labour Partei im Vereinigten Königreich, stellte explizit diese Vorstellung von Ungleichheit in Frage, und machte die Notwendigkeit deutlich, die Umverteilungsmechanismen zu verbessern und die große Schere zwischen Arm und Reich zu begrenzen.

Jedoch kann die Sozialdemokratie genau diese liberal-kapitalistische Kluft überwinden: traditionell hat sie immer darauf abgezielt soziale Gerechtigkeit und eine starke Umverteilung in den offenen Markt zu integrieren. Ich bin der Überzeugung, dass die Europäische Linke zu diesem simplen Prinzip zurückkehren sollte.

Daher sollte die Europäische Linke eine gemeinsame Fiskalreform vorschlagen. Ich bin sehr davon überzeugt, dass die europäischen Staaten ihre Steuern harmonisieren und allgemeine Sätze definieren müssen, insbesondere bei der Unternehmensbesteuerung.

Diese inhaltliche Ausrichtung sollte zwei Vorteile bringen: die Dumping-Effekte begrenzen, die immer noch im gemeinsamen Markt existieren und große Probleme für das kapitalistische System darstellen, und auch die effektivere Besteuerung globaler Firmen.

Tatsächlich konnten wir in den letzten Jahren den Machtgewinn einiger großer Firmen, vor allem im digitalen Sektor (besonders bekannt: FAANG), beobachten, deren Aktivitäten natürlicherweise schwieriger zu lokalisieren und daher auch schwieriger korrekt zu besteuern sind. Daher sollten wir, im Sinne der sozialen Gerechtigkeit und finanzieller Regulierungen, diese Firmen auf einem europäischen Level besteuern, nach deren Nutzer*innenzahlen pro Land. Ich bin sicher, dass die Europäische Union am Besten diese Besteuerung implementieren kann. Gaël Giraud, ein französischer Ökonom, verteidigt diese Maßnahme in einem berühmten Buch.

Meiner Ansicht nach wäre das eine tolle Politik, die eine starke Bedeutung für die europäische Ebene hat. Auf dieselbe Weise wird diese gemeinsame Besteuerung ein gutes Werkzeug und ein erster Schritt dazu sein, z.B. die obszönen Profite des europäischen Fußballsektors zu beschneiden.

Die Gewinne dieser neuen Europäischen Steuer sollten dem Europäischen Sozialfonds und dem Kohäsionsfonds zukommen um die Errichtung eines gemeinsamen Europäischen Sozialmodells zu fördern.

Im Allgemeinen sollten die öffentlichen Vertreter*innen das Verteilungssystem neu strukturieren, um die Ungleichheiten zu beschränken und den Klassen mit den niedrigsten Einkommen nach oben zu verhelfen. Die linken Parteien Europas sollten sich auch für die Beseitigung von Steuervorteilen und das Ende von familiären Steuerfreibeträgen für die reichsten Menschen stark machen.

Offensichtlich werden Freihandelsabkommen eine zentrales Thema sein. Die Europäische Union verhandelt TTIP mit den USA (seit 2017 pausiert die Verhandlung). Während Liberale und Konservative das Abkommen ohne Verzögerungen ratifizieren wollen, sollte vor allem die Europäische Linke ihrer Verpflichtung, gegenüber einer starken europäischen Industrie mit hohen ökologischen und sozialen Standards, nachkommen.

3. Europäischen sozialen Fortschritt konsolidieren

Solange die konservativen und populistischen Kräfte an Boden gewinnen, denke ich, dass es für die Europäische Linke ein zentrales Ziel sein wird, die Bürger*innen davon zu überzeugen, dass Europäisierung und allgemein die Internationalisierung nicht zwingend schlechte Dinge sind. In seinem berühmten Buch „What Should the Left Propose“, findet Roberto Unger einen geeigneten Ausdruck dafür: „the question should not be „how much globalization?“ but rather “what manner of globalization?” ”

Ebenso müssen wir dem Europäischen Projekt eine wirkliche Bedeutung geben. Angesichts des wachsenden Populismus ist das meiner Meinung nach eine dringende Notwendigkeit. Tatsächlich hat die EU ihr Hauptziel erreicht, nämlich Frieden schaffen und aufrechterhalten. Aber sie muss sich weiter und auf ein neues Ziel zubewegen: ein gemeinsames soziales Modell schaffen, das auf Solidarität und gemeinsamer Identität beruht. Es wird die Grundvoraussetzung für ein Europa sein, das die Leben der Menschen verändern und Solidarität garantieren kann.

Die europäische Ebene ist wirklich das geeignetste Level, um gemeinsame soziale Maßnahmen zu implementieren. Europa hat gemeinsame harmonisierende Werte und einen gemeinsamen Markt erschaffen. Jetzt muss sich die EU der Aufgabe widmen, das Soziale zu harmonisieren.

Morgen, wenn uns chinesische, indische, russische, und auch globale Unternehmen entgegen stehen, werden wir kollektive Aktionen brauchen. Ohne Europa wird es keinen ökologischen Transitionsprozess geben, keinen Kampf gegen Steuerflucht und keinen Investitionsplan…

Während die Quellen der Spannungen jeden Tag auf der Welt zunehmen, sollte die EU deutlich starke Positionen bezüglich der Umwelt und sozialer Themen bekräftigen. Und die Europäische Linke hat mit Sicherheit einige Vorteile, die hervor gehoben werden können.

Erstens hat sie eine ökologische Ideologie. Heutzutage ist es nicht möglich links zu sein ohne ökologisch zu sein. Es sollte beachtet werden, dass die ärmsten Menschen diejenigen sind, die zuerst von Klimawandel und Verschmutzung betroffen sind.

Das Konzept von sozialer Ökologie ist interessant, weil es darin begründet ist, dass nachhaltige Politik der Ausgangspunkt aller Sozialpolitik sein muss. Angesichts der Auswirkungen der Erderwärmung und hygienischer Problematiken, könnte die Europäische Linke einen europäischen Nachhaltigkeitsvertrag vorschlagen, der das ökologische Gegenstück zum Stabilitäts- und Wachstumspakt und zu den Maastricht-Kriterien sein könnte.

Zusätzlich sollte ein für alle Mal ein Verbot von endokrinen Disruptoren (Umwelthormonen) durchgesetzt werden sowie eine gemeinsame Steuer gegen Verschmutzungsaktivitäten.

Zweitens ist die Europäische Linke ein progressiver Flügel. Wenn es um Macht geht, muss sie beweisen, dass Europa sozialen Fortschritt bringen kann.

Ich denke dabei an eine europäische Strategie in Bezug auf Migration, die aktuell so nicht existiert, und endlich eine Lösung der Migrationskrise bringen kann. Ebenfalls denke ich an eine studentische und professionelle Mobilität, die so inklusiv wie möglich sein sollte, und zur Errichtung neuer europäischer Hilfsprogramme führen würde, denn Mobilität öffnet allen Bürger*innen neue Türen. Und ich denke an Grundrechte. EU-Richtlinien beschränken die wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden. Dieses Limit sollte noch weiter reduziert werden. Außerdem bin ich der Meinung, dass Staaten, die vom EUGH verurteilt wurden, zusätzlich von der Europäischen Kommission finanziell sanktioniert werden sollten, um soziale Weiterentwicklung zu fördern.

Wegen der genannten Punkte kann die Europäische Linke die Europäische Union als Schutz für ihre Bürger*innen einsetzen und es wird möglich sein, einen neuen „Europäischen Traum“ (Petr Drulak, 2014) zu schaffen, der sich mehr auf Politik und Bürger*innen konzentriert.

Zusammenfassend können wir daran erinnern, dass die Sozialdemokratie historisch einen starken Kompromiss zwischen den verschiedenen sozialen Klassen über ein gemeinsames soziales Projekt verkörperte. Lasst uns daran denken, dass diese politische Vision den Erflog der nördlichen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg ausmachte. Heute, während dieses Projekt zunehmend ungehörter wird, ist es besonders wichtig ihm eine neue Bedeutung zu schenken.

Die Europäische Linke hat einen sehr wichtigen Vorteil: sie bleibt zusammengeschweißt in der Partei der Europäischen Sozialist*innen. Das ist ein entscheidendes Werkzeug, um das große Europäische Projekt neu zu denken und die Zukunft der Europäischen Sozialdemokratie zu zeichnen, angefangen bei den anstehenden Europawahlen.

Ich denke, dass die Entscheidung um eine*n Spitzenkandidat*in nicht die wichtigste ist: wichtiger ist das zukünftige Manifest. Wie ich versuchte aufzuzeigen, muss die Zukunft der Europäischen Linken weg von der Koalition mit der EPP liegen und ein ambitioniertes politisches Programm hervorbringen.

Wenn die Europäische Linke Erfolg damit haben wird, ambitionierte Ideen vorzustellen und eines Tages auch Europa damit verändert, dann wird sie ihre Kraft auch in den europäischen Staaten wiederfinden. Institutionelle Reformen, soziale und fiskale Harmonisierung, Nachhaltigkeit, sozialer Wandel: es gibt viele Begriffe, die sich die Europäische Linke in den kommenden Monaten zueigen machen sollte.

The text can also be read on Arthur Moinet’s personal website.

1. ROVNY, Jan. ’What Happened To Europe’s Left?’, LSE Blog, 2018

2. https://www.nytimes.com/2018/02/11/world/europe/europe-politics-far-right.html

3. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftsweise-isabel-schnabel-im-interview-15288369.html

4. FONTAN, Clément. « La BCE dans la crise : Qui décide quoi ? », Pouvoirs, vol. 149, no. 2, 2014, pp. 91-100.

5. MUDGE, Stephanie. Leftism Reinvented. Western Parties from Socialism to Neoliberalism. Harvard University Press, 2018.

6. MILIBAND, Ed. ’Does inequality matter?’ in the The New Egalitarianism (ed.) Patrick Diamond and Anthony Giddens, Cambridge: Polity Press, 2005

7. GIRAUD, Gaël. Vingt Propositions pour réformer le capitalisme, Édition Garnier-Flammarion, 2010.

8. UNGER MANGABEIRA, Roberto. What Should the Left Propose? , Verso, 2006.

9. https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0131463

10. DRULAK, Petr. ‘Towards a European Dream’ in Shaping a different Europe, Dietz, 2014

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