Als der Präsident der jungen tschechischen Republik, Václav Havel, im März 1994 eine Redeim Europäischen Parlament in Straßburg hält, hören die Abgeordneten im Plenarsaal ihm aufmerksam zu. Seine Rede über die europäische Idee ist so bemerkenswert, dass einige Politiker später auf sie zurückkommen und sie sogar selbst zitieren.
Die Kluft zwischen Bürgern und Institutionen
Offenbar nahm sich die europäische Elite die Rede aber dann doch nicht genug zu Herzen, um die Vorschläge Havels wirklich zu berücksichtigen. Denn viele seiner Kritikpunkte sind heute noch viel aktueller als damals. Den Maastricht-Vertrag zum Beispiel bezeichnete Havel als bürgerfern:
„I felt I was looking into the inner workings of an absolutely perfect and immensely ingenious modern machine. To study such a machine must be a great joy to an admirer of technical inventions, but for me, whose interest in the world is not satisfied by admiration for well-oiled machines, something was seriously missing, something that could be called, in a rather simplified way, a spiritual or moral or emotional dimension. The treaty addressed my reason, but not my heart.“
Bemerkenswert ist, dass Havel damit bereits 1994 diagnostizierte, wie problematisch die „Bürokratiemaschine“ der EU-Institutionen für den Zusammenhalt innerhalb Europas sein würde. Damals, 1994, schien Europas Glanzzeit noch bevorzustehen: Die Einführung des Euro 2002 und die EU-Erweiterung 2004 waren beides Schritte auf einem Weg in eine „ever closer union“.
Wie Bürger sich für Politik begeistern lassen
Václav Havel starb 2011 - nach der Finanzkrise, aber vor der europäischen Krise. Die Krim-Annexion durch Russland, den Aufstieg von Polens Populisten und den Brexit hat er nicht mehr miterlebt. Das ist schade, denn Havel hätte die EU-Regierung vielleicht aufgerüttelt und ihr gezeigt wie das geht: Bürgernähe. Er, der Schriftsteller und ehemalige Dissident, wurde 1989 von den tschechoslowakischen Bürgern zum Präsidenten gemacht. Bereits auf den Demonstrationen im Rahmen der „Samtenen Revolution“ im November und Dezember 1989 riefen die Bürger: „Havel auf die Burg!“ und schrieben seinen Namen auf Hauswände in der Prager Innenstadt (die Prager Burg ist auch heute noch der Amtssitz des tschechischen Staatspräsidenten). Kann man sich vorstellen, dass die europäischen Bürger ähnlich begeistert für den nächsten EU-Präsidenten eintreten würden? Wohl kaum.
Rückbesinnung auf die Gründungsidee der EU
Noch etwas kann Havel uns gut ins Gedächtnis rufen: Frieden als Gründungsidee der Europäischen Union. Als Zeitzeuge der grausamen Nazi-Besatzung in der Tschechoslowakei von 1938 bis 1945 genauso wie des Prager Frühlings, der 1968 von sowjetischen Panzern gewaltsam niedergeschlagen wurde, wusste er, wie fragil die politische Stabilität in Europa ist. In seiner Straßburger Rede sagte Havel:
„Only a fool who has learned nothing from the millennia of European history can believe that tranquillity, peace and prosperity can flourish forever in one part of Europe without regard for what is happening in the other.“
Angesichts der Wahlen in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und auch in Tschechien kommendes Jahr bleibt nur zu hoffen, dass mancher Politiker sich auf diese Worte Havels zurückbesinnt. Jede Politik, die ein „Europa der Nationen“ propagiert, ist kurzsichtig, rückwärtsgewandt und künftigen Generationen gegenüber höchst ungerecht.
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