Die Bedrohung durch das Virus und die Bitten zahlreicher Geflüchteter um eine Verlegung brachten die türkischen Behörden zu der Entscheidung, das Flüchtlingslager an der türkisch-griechischen Grenze Ende März endgültig zu räumen. Es soll bestätigte Corona-Fälle unter den dort verbliebenen Geflüchteten gegeben haben. Laut Tagesschau zeigen Handyvideos chaotische und gewaltsame Szenen. Türkische Sicherheitskräfte sollen die provisorischen Unterkünfte der Geflüchteten zerstört und angezündet haben. Die Geflüchteten wurden mit Bussen in Quarantäne-Unterkünfte im Landesinneren gebracht. Wie es für sie nach der zweiwöchigen Quarantäne weitergeht, bleibt bisher unklar.
Geflüchtete, die das Lager an der türkisch-griechischen Grenze nach der erneuten Schließung bereits freiwillig verlassen hatten, gingen davon aus, dass nur noch jeder Vierte an der EU-Außengrenze verharrt und gehofft hatte, nach Griechenland zu kommen. Nach Schätzungen der griechischen Regierung sollen vor der endgültigen Räumung noch etwa 2.000 Geflüchtete an der Grenze in notdürftigen Unterkünften verharrt haben. Allerdings lassen sich diese Zahlen nicht unabhängig prüfen. Sie durften das abgesperrte Lager nicht verlassen. Eine Möglichkeit die Akkus ihrer Handys aufzuladen, hatten sie nicht. Daher war eine Kontaktaufnahme mit ihnen nicht möglich. Zudem gab es nicht genügend Wasser für die Geflüchteten, sodass gründliches Händewaschen unmöglich war – besonders dramatisch in Zeiten der Corona-Pandemie.
EU muss erneut mit der Türkei verhandeln
Bei Erdogans ursprünglicher Entscheidung, die Grenzen nach Griechenland zu öffnen, haben wohl auch innenpolitische Motive eine wichtige Rolle gespielt. Die Stimmung gegenüber Syrer*innen ist deutlich gekippt. Die Lage der Geflüchteten in der Türkei verschlechtert sich stetig. Sie werden verstärkt mit Diskriminierung konfrontiert, weil die öffentliche Kritik an der hohen Zahl der aufgenommenen Geflüchteten lauter geworden ist. Etwa vier Millionen Geflüchtete, überwiegend aus dem Nachbarland Syrien, leben in der Türkei. Dieses Thema spielte auch bei den starken Stimmverlusten von Erdogans Partei AKP in den Metropolstädten Istanbul und Ankara bei den türkischen Kommunalwahlen im vergangenen Jahr eine Rolle.
Die Entscheidung zur erneuten Schließung der Grenzen erfolgte einen Tag, nachdem Frankreich, Großbritannien und Deutschland dem türkischen Präsidenten Erdogan in einer Video-Konferenz weitere EU-Zahlungen zur Versorgung von Geflüchteten in Aussicht stellten. Alle Seiten bekannten sich klar zu dem Flüchtlingspakt mit Ankara. Die EU hatte allerdings in den vergangenen Wochen deutlich gemacht, dass die Türkei nicht mit finanzieller Unterstützung rechnen könne, solange die Grenzöffnung aufrechterhalten werde. Sie wertete das Vorgehen Erdogans als Erpressung. „Wir haben die Bereitschaft gezeigt, mehr humanitäre Hilfe zu leisten, aber auch andere Punkte wie das Gespräch über die Zollunion nicht aus dem Auge zu verlieren“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Konkrete Angaben über die Höhe der geplanten finanziellen Unterstützung gab es nicht.
Wegen des umstrittenen Flüchtlingsabkommens aus dem Jahr 2016 wurde der EU vorgeworfen, sich die Geflüchteten gegen Geld vom Leibe zu halten. Das Abkommen erfüllte seinen Zweck und die Zahl der in Griechenland ankommenden Geflüchteten sank nach Zählungen des UNHCR von fast 900.000 im Jahr 2015 auf unter 60.000 im Jahr 2019. Nun stehen neue Verhandlungen über den Migrationspakt an, damit die Zusammenarbeit wieder aufgenommen werden kann. Eine Anschlussregelung steht noch aus, auch wenn die EU bisher agiert hat, als sei das Problem gelöst.
Humanitäre Katastrophe stoppen
Erdogan fordert von der EU die Beteiligung am Bau von Container-Häusern für Geflüchtete in der syrischen Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei, damit diese in Syrien bleiben. Es handelt sich um das letzte große Rebellengebiet in Syrien. Die Menschen dort benötigen dringend humanitäre Hilfe. Hunderttausende sind vor den Angriffen der syrischen Armee und russischer Streitkräfte nach Norden geflohen. Für die EU stehen schwerwiegende Entscheidungen zum Umgang mit der neuen Nahost-Macht Russland und dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, einem mutmaßlichen Kriegsverbrecher, an. Während die Türkei die Rebellengruppen in Idlib unterstützt, helfen Russland und Iran der syrischen Regierung unter Präsident Assad. Wie die Lösung letztendlich aussehen wird, lässt sich nicht absehen. Sie sollte allerdings zeitnah gefunden werden, um die anhaltende humanitäre Katastrophe zu stoppen.
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