Die Gedanken sind frei, der ungarische Journalismus nicht.

Ein Kommentar zu Victor Orbàns Notstandsgesetz

, von  Sophia Christoph

Die Gedanken sind frei, der ungarische Journalismus nicht.
De facto entmachtet: Das ungarische Parlament Pixabay | Foto von bici | Pixabay-License

Die Presse- und Meinungsfreiheit stellen, wenn man so will, neben dem allgemeinen Wahlrecht eines der Standbeine der Demokratie dar. Das wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass Autokrat*innen jeglicher Art stets darum bemüht sind, diese Freiheiten einzuschränken. Oder anders formuliert - sie einer Zensur zu unterwerfen. Danach strebt auch Viktor Orbàn und mit seinem Corona-Notstandsgesetz vom März 2020 scheint er die unabhängigen Medien endgültig mundtot machen zu wollen.

Demokratie funktioniert nur, wenn es in der Gesellschaft einen Raum für offene und kritische Diskussionen gibt. Die Medien stellen sowohl diesen Raum dar, als auch ein Mittel, um über den Austausch von Ideen und Meinungen zu berichten. Für eine umfassende Berichterstattung und ein kritisches Hinterfragen ist es zwingend notwendig, dass Medien unabhängig agieren. Das bedeutet Freiheit von Einflüssen aus der Politik, die beispielsweise das Aufdecken vertuschter Skandale und die damit einhergehende öffentliche Kritik verhindern wollen, aber auch ein Freisein von Einflüssen der Wirtschaft. Wenn etwa nur bestimmte Themen in den Nachrichten diskutiert werden oder andere Interessen in den Redaktionen des Landes im Vordergrund stehen - finanzielle Abhängigkeit oder politische Intrigen zum Beispiel - dann fehlt diese Unabhängigkeit. Damit werden die Möglichkeiten der einzelnen Bürger*innen zur freien Meinungsbildung und -äußerung drastisch eingeschränkt. Außerdem kann das Unterschlagen von Informationen oder gar die Verbreitung falscher Tatsachen gezielt zur Manipulation der Bevölkerung und des öffentlichen Diskurses genutzt werden. Und in Ungarn geschieht seit einigen Jahren genau dies im großen Stil.

Langsam, aber sicher: Ungarn auf dem Weg in die Zensur

Ungarn, ein Mitgliedsland der europäischen Union, belegte in diesem Jahr Platz 89 von 180 in der von Reporter ohne Grenzen jährlich veröffentlichten Rangliste der Pressefreiheit. Damit steht das Land an letzter Stelle aller EU-Länder. Seit 2014 wurden dem European Center for Press and Media Freedom (ECPMF) mehr als 200 Situationen gemeldet, in denen die Pressefreiheit in Ungarn bedroht, verletzt oder eingeschränkt wurde.

Seinen Anfang nahm alles, als vor gut zehn Jahren in Ungarn neue Mediengesetze verabschiedet wurden. Durch diese wurden die neue Medienbehörde NMHH (Nemzeti Média- és Hírközlési Hatóság, zu dt. Staatliche Behörde für Medien und Nachrichtenübermittlung) befugt, öffentlich-rechtliche und private Sender sowie Internetportale gleichermaßen zu kontrollieren. Bei Verstößen gegen die Auflagen drohen den jeweiligen Medienanbietern hohe Geldstrafen von bis zu 90.000 Euro. Im Vorstand der Behörde tummeln sich damals wie heute Orbàns Unterstützer*innen aus der Fidesz-Partei. Für den unabhängigen Journalismus eine große Bedrohung, die auch schon damals von Treffpunkt-Europa-Autor Niklas Kramer thematisiert wurde.

Und obwohl diese Gesetze 2010 viele Proteste provozierten, steuerte Ungarn in den folgenden zehn Jahren weiter in Richtung Medien-Zensur und der damit einhergehenden Aufhebung der Pressefreiheit. 2018 wurden zum Beispiel die öffentlich-rechtlichen Sender von der staatlichen Medienagentur MTVA übernommen. Aber auch die kritische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen in Forschung und Wissenschaft ist von den weitreichenden staatlichen Einschränkungen betroffen - Gender Studies können in ungarischen Universitäten nicht mehr studiert werden, das Fach untergrabe die traditionellen Fundamente der christlichen Familie, die wie in der polnischen Politik auch bei Orban einen hohen Stellenwert einnimmt.

Corona ist für Orban ein Geschenk des Himmels

Die Corona-Pandemie hat nun aber Viktor Orbàns autokratische Träume wahr werden lassen: Durch sie bekam er die einzigartige Gelegenheit, den nationalen Notstand ausrufen zu lassen, sodass er von nun an per Dekret regiert. Das Notstandsgesetz gilt auf unbestimmte Zeit und ermöglicht das Aussetzen von Wahlen im Zeitraum seiner Gültigkeit – also bis das Notstandsgesetz aufgehoben wird. Möglicherweise werden also auch die Parlamentswahlen von 2022 dadurch verhindert. Außerdem ermöglicht es eine weitere drastische Einschränkung der Pressefreiheit. Mit den neuen Paragraphen 322 und 337 werden zwei völlig neue Straftatbestände geschaffen: Personen, die die Umsetzung infektions-epidemiologischer Schutzmaßnahmen verhindern, können mit bis zu drei Jahren Haftstrafe bestraft werden, Personen, die für eine Beunruhigung der Bevölkerung durch Falschinformationen in den Medien verantwortlich sind, mit bis zu fünf Jahren.

Wer genau anhand welcher Maßstäbe beurteilt, ob Falschinformationen vorliegen, wird nirgends konkretisiert. Ein geschickter Trick: Die Anwendung des Gesetzes obliegt somit staatlicher Willkür, die sich, durch eben jenes Gesetz geschützt, nicht rechtfertigen muss. Ironischerweise waren es die staatlichen Medien, die die Coronakrise zu Beginn leugneten - also zur Desinformation der Bevölkerung beitrugen. Proteste und Demonstration gegen oben genanntes Gesetz, werden durch selbiges auch postwendend unterbunden: Zur Gewährleistung des Infektionsschutzes kann natürlich jederzeit ein Versammlungsverbot angeordnet, und ein Zuwiderhandeln ebenso leicht bestraft werden. Die noch vorhandenen Stimmen der kritischen ungarischen Presse sind empört, ebenso die Organisation Reporter ohne Grenzen und die restlichen Mitgliedsstaaten der EU. Denn gerade „in Zeiten der Corona-Pandemie sind Pressefreiheit und das Recht auf Information wichtiger denn je“, meint der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. „Das Recht auf Information umfasst die Freiheit, zuverlässige Informationen zu suchen, zu erhalten und zugänglich zu machen. Wenn Regierungen dieses Recht verletzen, gefährden sie die Gesundheit und sogar das Leben von Menschen.“

Eine europäische Antwort? Fehlanzeige!

Aber was tut die EU? Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union soll laut Art. 11 die Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit gewährleisten. „Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet“, heißt es dort wörtlich. In Ungarn sieht sich die EU aber mit einer sehr konkreten und sehr realen Verletzung dieser Freiheit konfrontiert. Seit 2018 läuft deshalb ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn , jedoch sehr langsam und mit offenem Ausgang. Und eigentlich setzt sich die EU mit dem jährlich verliehenen „Sacharow-Preis für geistige Freiheit“ auch für die Unterstützung des freien und unabhängigen Journalismus ein.

Für die explizite Achtung der Pressefreiheit spricht sich die EU allerdings nirgends wirklich verpflichtend aus. Dabei gibt es seit bereits mehr als einem Jahrzehnt die Europäische Charta für Pressefreiheit, ein bisher nicht-bindendes Dokument, das 2009 von 19 EU-Mitgliedsstaaten und 48 führenden Journalist*innen gemeinsam entwickelt und unterzeichnet wurde. Dort werden Grundsätze für den Umgang von Regierungen mit Journalisten*innen festlegt. Ungarns Politik verstößt gegen mindestens die Hälfte der zehn Artikel der Charta. Im Windschatten des Coronavirus hat Viktor Orbàn es mit seinem Notstandsgesetz geschafft, vor den Augen der EU die Pressefreiheit als eines der Grundrechte der Union nahezu vollständig seiner Kontrolle zu unterwerfen. Aufschreie kamen aus den Medien, aber nicht aus dem EU-Parlament und den anderen europäischen Institutionen.

Genauso dringend, wie die EU Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus braucht, benötigt sie wirksame und bindende Schutzmaßnahmen für eine unabhängige Medienlandschaft in den EU-Mitgliedsstaaten. Sonst wird man die Pressefreiheit zumindest in Ungarn bald zu Grabe tragen müssen.

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