Der normale Ablauf eines Gerichtstermins ist schnell skizziert: Zwei streitende Parteien kommen zusammen, ein möglichst unabhängiger Richter fällt ein Urteil, dieses ist für alle Beteiligten bindend. Das mag eine Selbstverständlichkeit sein, doch in der Schweiz ist es Ausgangspunkt einer hitzigen Debatte. Der Anlass: die Schweiz muss gewissen, von der EU vorgegebenen Rahmenbedingungen zustimmen, will sie weitere Verträge mit der Union aushandeln. Eine davon ist eine gemeinsame Instanz des Rechtsschutzes, in diesem Fall der Europäische Gerichtshof (EuGH). Dieser ist für die Auslegung der europäischen Verträge zwischen EU-Mitgliedern zuständig. Die Schweiz ist zwar kein Mitglied, schließt aber Abkommen mit der EU ab - der EuGH soll nun auch über diese wachen.
Unverbindlicher Rat oder bindender Entschluss?
Vielen Schweizern ist das ein Dorn im Auge. Sie wittern Bevormundung durch Europa, dem viele Eidgenossen noch immer skeptisch gegenüberstehen. Deswegen versucht der zuständige Staatssekretär Yves Rossier im Interview mit der Boulevardzeitung Blick die Wogen zu glätten: Der EuGH lege das EU-Recht lediglich aus und teile den Streitparteien seine Auffassung der Gesetze mit. Das sei ein Rechtsgutachten, kein bindendes Urteil, die Schweiz könne zu nichts gezwungen werden. Entweder sie nimmt es an - oder eben nicht. EuGH-Präsident Vassilios Skouris ließ in einem anderen Interview durchscheinen, was er von dieser eigenwilligen Definition hält: „Entscheide sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Streitparteien, die sich an ein Gericht gewandt haben, binden“, sagt er dem Tages-Anzeiger.
Ein einleuchtender Einwand - in der Tat ist schwer vorstellbar, dass der Schweizer Bundesrat in einem Streitfall gegen das Gericht entscheiden und damit die bestehenden Verträge und den Ruf der Schweiz als verlässlicher Partner ad absurdum führen würde. Eine solche Extrawurst dürfte auf Dauer nicht durchsetzbar sein. Doch gerade die Vorstellung, dass „fremde Richter“ die Schweiz herumkommandieren könnten, ist den stolzen Eidgenossen ein Graus.
Eine Gefahr für die bilateralen Verträge
Eine Entscheidung gegen die Zuständigkeit des EuGH könnte bei den zahlreichen Bilateralen Verträgen der Schweiz mit der EU gravierende Folgen haben: Stimmt das Land dem Rahmenabkommen nicht zu, wären weitere rechtlich bindende Vereinbarungen mit EU-Mitgliedern kaum noch umsetzbar. Bereits bestehende Verträge könnten aufgrund der fehlenden Rechtssicherheit aufgekündigt oder suspendiert werden. Keine Bagatelle, denn die bestehenden Übereinkommen sind vielfältig - Personenfreizügigkeit und Schengen-Abkommen sind nur zwei davon.
Deutlich zeigt sich an dieser Frage die grundsätzliche Einstellung der Eidgenossen gegenüber allem, was nicht schweizerisch ist: latentes Misstrauen. Zwar blicken gerade die jungen, gebildeten Schweizer mit Neugier auf die EU und nutzen gerne das ERASMUS-Programm oder die Personenfreizügigkeit. Kompetenzen abgeben, supranationale Instanzen anerkennen oder gar den Euro einführen - das kratzt doch zu sehr an der gefühlten Einzigartigkeit zwischen Rivella, Rösti und Konkordanz.
So bleibt die Schweiz eine Insel der vermeintlich Seligen in Europa. Das ist jedoch nicht in Stein gemeißelt - schon Albert Einstein wollte den Weltuntergang am liebsten in der Schweiz verbringen. Dort würde nämlich alles etwas später geschehen. Vielleicht braucht es einfach weitere 20 Jahre, bis die Schweizer die EU voll und ganz akzeptieren.
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