Rede zur Lage der Union

Die letzte Chance des Jean-Claude Juncker

, von  Manuel Gath

Die letzte Chance des Jean-Claude Juncker
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei seiner Rede zur Lage der Union 2018 Foto: Flickr / European Parliament / Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0)

EU-Kommissionspräsident Juncker ist bei seiner Rede zur Lage der Union weit unter seinen Möglichkeiten geblieben, findet Manuel Gath. Ein Kommentar.

Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, hat am gestrigen Mittwoch seine letzte “State of the Union”-Rede vor dem Europäischen Parlament gehalten. Was sich anhört wie eine Chance, den Ernst der Lage für die Europäische Union und die enorm wichtige Rolle der kommenden Europawahlen für visionäre Reformen zur Verbesserung der Union in Gedächtnis zu rufen, wurde zu einer ambitionslosen Aufzählung lauer Reformlüftchen.

Erfolge ohne Ambitionen

Während sich die wirtschaftliche Lage in Europa sukzessive erholt und sich die Kommission vielleicht auch zu Recht Erfolge wie die Entlassung Griechenlands aus dem Euro-Rettungsschirm auf die Fahne schreiben kann, so bleiben zentrale Zukunftsfragen der Wirtschafts- und Währungsunion nach wie vor unbeantwortet. Im Jahr zehn (!) nach der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise taugt die Finanztransaktionssteuer immer noch als fernes Ziel globaler Gerechtigkeit. Gut sechs Jahre nach dem ambitionierten Fünf-Präsidenten-Bericht ist das kein gutes Zeichen für den Reformeifer in Europa. Das Ausschweigen Junckers zu diesen Eurozonenfragen, die der französische Präsident Macron so sehr in den Vordergrund gestellt hatte, spricht jedenfalls Bände.

Eine vage in Aussicht gestellte Reform der Asyl- und Migrationspolitik, ein besserer Grenzschutz: Die Kommission verspricht, in den kommenden Monaten nochmal Vorschläge vorzulegen, um die regelmäßigen und unwürdigen Hängepartien von Seenotrettungsschiffen im Mittelmeer zu beenden. Es wäre ein unerwarteter Coup, besonders angesichts der festgefahrenen Blockadehaltungen in Ländern wie Österreich, Italien oder Ungarn. Allein mir fehlt der Glaube.

Wenig Inspiration, wenig Konkretes

Unkonkrete Andeutungen zu Europas Rolle in der Welt, eine Reduzierung der Digitalisierung auf die Steuerfrage von amerikanischen Großkonzernen, nur ein Satz zur Energiepolitik der EU und zur Sozialunion: Es gab wenig Inspirierendes und wenig Konkretes, was über ein EU-weites Plastikverbot oder die Abschaffung der Zeitumstellung hinausging. Großen Applaus gab es für die Forderung, häufiger qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat anzuwenden – ein Vorschlag, den der deutsche Außenminister ebenfalls vor Wochen machte. Wie das jedoch mit der zu vermeidenden Spaltung Europas in Nord-Süd und Ost-West in Einklang zu bringen ist, dazu sagte Juncker allerdings ebenfalls nichts. Unerwähnt bleibt die Abwesenheit der EU beim jüngsten Krisengipfel zwischen der Türkei, Russland und dem Iran. Für den Anspruch eines Global Players sicherlich ernüchternd.

Dass selbst im Jahr 2018 von Afrika als einem monolithischen Block der identischen Interessen gesprochen wird, zeugt ebenfalls nicht von Fortschrittseifer. Bezeichnend, dass Juncker an dieser Stelle langfristige und nachhaltige Investitionen für afrikanische Länder fordert, ohne auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, wie lange und wie umfangreich die chinesische Regierung vor Ort mit genau dieser Zielsetzung schon aktiv geworden ist. Eine enge Kooperation mit der Afrikanischen Union ist sicherlich zentral für alle Beteiligten, eine faire und aus heutiger Perspektive im Zweifel auch zu Lasten der EU gehende Handelspolitik mit dem globalen Süden ist das nicht minder.

Viel Schatten, aber auch Licht

Bei aller Kritik, es gab auch Licht im Rahmen der Rede. So verwies der Kommissionspräsident auf das anstehende und glücklicherweise auch durch das Europäische Parlament im Anschluss bestätigte Verfahren nach Artikel 7 gegen Ungarn, um gegen die höchst umstrittenen Gesetzesänderungen der letzten Jahre auf dem Weg zu Orbans illiberaler Demokratie vorzugehen. Er verschwieg auch nicht seine Verärgerung darüber, dass es in nunmehr zwei europäischen Ländern bereits zu Morden an Journalist*innen kam. Dass auch die Beibehaltung des Spitzenkandidatenprinzips und die Forderung nach transnationalen Listen weiterhin Dauerbrenner auf der progressiven Europaagenda sind, ist an der Stelle nicht Junckers Schuld.

Überhaupt gab es immer dann starke Momente, wenn es etwas bissiger wurde: Der Hinweis, es gäbe überall Sündenböcke für mangelnde Taten, aber am wenigsten in Kommission und Parlament, wurde zum starken Seitenhieb gegen die intergouvernementale Flanke der EU. Daraus entwickelte sich ein proaktiver Spin, der eine „Weltpolitikfähigkeit“ Europas zur neuen Quelle der Souveränität werden ließ und das klare Bild eines aufgeklärten Patriotismus gegen kranken Nationalismus entwarf. Von diesem Anflug positiver Zukunftsvisionen, bestenfalls garniert mit konkreten Vorschlägen, hätte man sich wesentlich mehr gewünscht.

Das Vermächtnis ist noch nicht komplett

Alles in allem ein vergleichsweise blasser Auftritt des ersten Spitzenkandidaten im Amt des Kommissionspräsidenten, der selbst zu Beginn darauf hinwies, dass es für eine finale Bilanz zu früh sei. Zum Glück, möchte man meinen. Denn als Gradmesser für eine erfolgreiche Amtszeit wäre die Temperatur seiner letzten Rede zur Lage der Union in der Tat viel zu niedrig gewesen. Die nächsten Monate werden zeigen, ob in zentralen Bereichen – zum Beispiel in den Budgetverhandlungen – noch wichtige letzte Schritte gegangen werden können. Zu wünschen wäre es Juncker und seinem Vermächtnis.

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