Als ich vor knapp zwei Jahren für das Studium in die Niederlande gezogen bin, kam mir das alles erstmal sehr simpel vor. Und das war es auch: Ich musste weder Anträge schreiben noch Versicherung wechseln. Einfach die Sachen ins Auto – und los! Nach einer Weile fielen mir jedoch immer mehr Kleinigkeiten auf, die in einer Europäischen Union nach meinen Vorstellungen besser laufen könnten. So kostet es ein Vermögen und kann von ein paar Tagen bis zu drei Monaten dauern, ein Päckchen in eine Stadt zu schicken, die knappe vier Autostunden entfernt, jedoch im europäischen Ausland liegt. Noch ein Beispiel: Trotz anfänglicher Freude über den geringen administrativen Aufwand, bekam ich nach ein paar Monaten eine SMS, ich müsste den Handyvertrag wechseln. Denn damit nicht der günstige Handyvertrag in anderen Mitgliedstaaten abgeschlossen wird, ist das EU-Roaming begrenzt. Macht zwar Sinn, könnte in einem föderal organisierten Bundesstaat aber besser laufen.
Wie genau würde der aussehen? Das schauen wir uns anhand eines anderen Beispiels mal genauer an: Das Bier stand schon kalt, die deutschsprachigen Gäste waren eingetroffen, da fiel meiner Mitbewohnerin und mir auf, das mit dem Tatort-Livestream, das geht hier nicht so einfach. Ich spreche vom Geoblocking, von der Bundesnetzagentur als solches beschrieben, wenn Menschen innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes der EU Waren oder Dienstleistungen nicht grenzüberschreitend erwerben können. Zwar wurde Geoblocking als eine Form von Diskriminierung schon 2018 per Verordnung innerhalb der EU versucht zu beseitigen, doch führen vage Bestimmungen bezüglich der Dauer des Auslandsaufenthaltes weiterhin zum Blocking von kostenfrei zugänglichen Online-Diensten, die sich nur freiwillig beteiligen müssen. Denn kostenpflichtige Dienste (Netflix, Amazon Prime und Co.) müssen Abonnent*innen ihre Dienste bei temporärem Aufenthalt im Ausland weiter zur Verfügung stellen. Livestreams der Öffentlich-Rechtlichen und manche Angebote in der Mediathek fallen nicht in diese Kategorie und sind deshalb in der Regel nicht verfügbar.
Öffentliche Debatten sind wesentlich für eine funktionierende Demokratie
Was hier als banales Beispiel dient, betrifft jedoch eine große Frage unserer Zeit. Verstehen wir die EU nur als Wirtschaftsunion, sind wir zufrieden mit dem Status Quo? Oder braucht es über die ökonomische Integration hinaus auch vergleichbare Lebensverhältnisse oder gar Lebensrealitäten? Vergleichbare Lebenswelten sind existenziell für eine funktionierende Demokratie, denn sie bedeuten, dass Menschen mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert, aber auch mit den gleichen Chancen ausgestattet sind. Sollten wir alle denkbaren Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten aufgeben und einen gemeinsamen Lebensraum mit echter, europäischer Demokratie schaffen, so brauchen wir aber auch eine gemeinsame Öffentlichkeit. Ohne eine europäische Öffentlichkeit mit transnationalem Mediennetzwerk ist eine funktionierende Demokratie aus mehreren Gründen schwer zu realisieren: Insbesondere in einer Welt mit zunehmenden Kompetenzen auf europäischer Ebene muss jede*r Bürger*in in jedem einzelnen Mitgliedstaat über vertikale Kanäle informiert werden und öffentlich mitdiskutieren können.
Dafür braucht es eine umfassende Berichterstattung der größeren Medienhäuser über europäische Politik, die nicht abseits der großen Reportagen im Ressort “Ausland” ganz unten auf der letzten Seite landet, sondern die die Debatten tagesaktuell, niedrigschwellig und aus europäischer statt aus nationaler Perspektive kommentiert. Nur so können Bürger*innen eine informierte Wahlentscheidung auf europäischer Ebene treffen und sich über andere Formen der politischen Partizipation einbringen. Anstatt des Geoblockings bietet der Ausbau von transnationalen Medienplattformen weiterhin die Möglichkeit einer Europäisierung der Debatten. Zentral ist hier nicht, Tatort auch im Ausland schauen zu können (obwohl sehr wichtig), sondern die Lebensrealitäten anderer Menschen in Europa kennenzulernen, verschiedene Perspektiven einzunehmen und Vorurteile zu verringern. Denn nur mit Offenheit und gegenseitigem Verständnis kann eine weitere politische Integration stattfinden. Das kann zum Beispiel durch Expert*innen-Stimmen aus anderen Ländern, einer europäischen Talkshow oder unterhaltsamen Serien aus anderen Mitgliedstaaten angestrebt werden.
Europäische Öffentlichkeit in einem föderalen Europa
Wie könnte das in der Praxis aussehen? In einem föderalen Europa sollte es auch einen föderalen Zusammenschluss nationaler Medien (ob öffentlich-rechtlich oder privat) zu einem Europäischen Rundfunk geben, dessen Inhalte in jedem Land uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Europapolitische Berichterstattung kommt so zentral aus Brüssel und wird durch die europäische Linse dokumentiert. Wie wäre es zum Beispiel mit europäischen 20 Uhr-Nachrichten? Ergänzend zur Politikberichterstattung könnten unterhaltsame Programme wie zum Beispiel jüngst “Parlament” (deutsch-französisch-belgische Koproduktion) oder der Vorschlag eines Brüsseler House of Cards für ein breiteres Publikum sorgen. Denken wir beispielsweise an den letzten Eurovision Song Contest und den transnationalen Diskurs über die italienischen Gewinner*innen auf Twitter, Instagram und TikTok. Oder wie wäre es mit einer digitalen Plattform, auf der sowohl europäische als auch nationale Programme untertitelt und barrierefrei bereitgestellt sind? Kein Geoblocking also, stattdessen die proaktive Verbreitung nationaler Inhalte in andere Mitgliedstaaten. Was wie ein teures Vornehmen zu Lasten der Steuerzahler*innen wirkt, könnte durch einen gemeinsamen Fond finanziert werden, der sich teils aus den jeweiligen Abgaben zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes in den Mitgliedstaaten zusammensetzt. Da das nicht in jedem Land der Fall ist, können auch Länder ohne öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen finanziellen Beitrag leisten, damit Bürger*innen das europäische Mediennetzwerk uneingeschränkt nutzen können.
Eine Öffentlichkeit für alle Europäer*innen
Würde eine solche europäische Öffentlichkeit, wie sie schon in Ansätzen besteht, in einem Europäischen Bundesstaat weiter gedacht werden, so würden wir sicherlich ähnliches feststellen wie in den sozialen Medien: Von #BlackLivesMatter, über Fridays for Future zu der Diskriminierung von Geflüchteten, der LGBTQ Community und Minderheiten - uns beschäftigen doch ähnliche Themen in Europa. Wenn wir gar nicht so verschieden sind, was hält uns noch davon ab, solch einen Ideenaustausch zu ermöglich und so unsere gemeinsame Zukunft in einem vereinten und handlungsfähigen Europäischen Bundesstaat zu gestalten?
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