Mittlerweile weiß fast jeder, was in der Ukraine derzeit vor sich geht. Seit Wochen wird die weltweite Medienberichterstattung von den Geschehnissen im Land dominiert, die in der Volksabstimmung am 16. März zum Russland-Beitritt der Krim ihren (vorläufigen) Höhepunkt fand. Ich interessiere mich stark für die Politik in der Region. Ich verfolgte die Entwicklungen mit derart großem Interesse, dass ich beinahe ein anderes Ereignis übersehen hätte, das mir ebenfalls nah am Herzen liegt. Im Nordosten Italiens, in meiner Heimatregion Venetien, wurde für genau jenem 16. März ein Referendum über die Unabhängigkeit vom Rest des Landes angesetzt. Erstaunlicherweise erfuhr ich dies nicht aus italienischen, sondern aus deutschen und englischen Medien. In Italien sorgte das Thema für eine äußerst überschaubare mediale Aufmerksamkeit.
Bis zum 21. März durften etwa vier Millionen Wahlberechtigte ihre Stimme abgeben. Insgesamt 89 Prozent der zwei Millionen Teilnehmer sprachen sich für eine Abspaltung aus. Hintergrund für die Aktion, die in ähnlicher Weise bereits mehrmals stattgefunden hatte, ist die Tatsache, dass Venetien eine sehr ausgeprägte regionale Identität besitzt. Diese ist hauptsächlich auf die Geschichte der unabhängigen Republik Venedig zurückzuführen, die bis 1797 existierte und zu der Venetien fast tausend Jahre lang gehörte. Der historische Hintergrund hat deutliche Spuren hinterlassen. Auch der sprachliche Aspekt ist nicht zu unterschätzen, denn der Dialekt, besser gesagt die Dialekte, unterscheiden sich teils erheblich vom Standard-Italienischen und werden im Alltag weiterhin verwendet. Hinzu kommt die Tatsache, dass Venetien dank seiner zahlreichen kleineren und mittleren Unternehmen eine sehr industrialisierte und wohlhabende Region ist. Angesichts der weniger vorteilhaften wirtschaftlichen Lage anderer italienischer Regionen stellt dies einen fruchtbaren Boden für Unabhängigkeitsbestrebungen dar. So konnte die separatistische Partei Lega Nord , die einst in einer Koalition mit Berlusconi das Land regierte, in dieser Gegend zeitweilig extrem hohe Wahlergebnisse verzeichnen.
Die jüngste Volksabstimmung in Venetien ist zwar rechtlich unverbindlich und im Wesentlichen eher einer Umfrage gleichzustellen. Dennoch bietet sie Anlass zu einigen Überlegungen. Europa erlebt bereits seit langer Zeit mehrere Unabhängigkeitsbestrebungen. Die Scottish National Party strebt etwa die Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich an, für den kommenden Herbst ist eine entsprechende Volksabstimmung angesetzt. Ähnlich verhält es sich in Spanien, wo die autonome Region Katalonien sich abzuspalten droht.
Der Rest des Kontinents bietet zahlreiche weitere Beispiele separatistischer Bestrebungen. Diese basieren teilweise auf sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Begründungen. In einigen Fällen wäre die Unabhängigkeit zudem mit heiklen finanziellen Fragen verbunden: So ist es zumindest eine Diskussion wert, welchen europapolitischen Kurs ein souveränes Schottland einschlagen würde, oder ob es überhaupt seinen Schuldverpflichtungen nachkommen könnte. Interessant ist auch die Frage, ob die Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa nur eine Ablehnung des zentralisierten Staats zugunsten eines Europas der Regionen darstellen, oder eher eine Abneigung gegenüber dem gesamten EU-System. Über dieses Thema ließe sich lange diskutieren.
Obwohl das Referendum in Venetien keine rechtlichen Folgen haben wird und sich letztendlich als ein sonderbares Experiment erweist, hat mich dieses Ereignis betroffen gemacht. Schließlich kann ich die kulturellen und historischen Argumente nachvollziehen. Ich bin sehr stolz auf die Geschichte meiner Stadt, und wenn man mich nach meiner Herkunft fragt, lautet meine Antwort oftmals „Venedig“ statt „Italien“. Aber ich finde es auch sehr schön, Italiener zu sein. Das Streben nach einem unabhängigen Venetien ist mit einer idealisierten Vorstellung der langen und großen Geschichte der Republik Venedig verbunden. Die Idee entbehrt nicht einer gewissen Romantik. Ob sie realisierbar oder überhaupt sinnvoll wäre, ist aber zumindest zweifelhaft.
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