Die Rückkehr der Solidarität

, von  Fabian Waiblinger

Die Rückkehr der Solidarität
Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Europäischen Rat in Brüssel am 16. Dezember 2021 Foto: European Union, 2021 / Freie Lizenz

Alle skandinavischen Länder, Spanien, Deutschland und ja, vielleicht auch die USA, haben eines gemeinsam: Sie werden momentan von Sozialdemokrat*innen regiert. Wie ist dieser Aufstieg zu erklären und was hat die Wiederentdeckung der Solidarität damit zu tun?

Olaf Scholz führte seine Kampagne unter dem Titel „Respekt“, Anne Hidalgo will mit dem Motto „le respect“ erste französische Staatspräsidentin werden und Joe Biden redet täglich über die Anerkennung für die „amerikanischen Arbeiter*innen“. Es scheint, als sei der Respekt bzw. die Anerkennung von Lebensleistungen, unabhängig vom Bildungs- und Einkommenslevel, zur neuen Überschrift westlicher Mitte-Links-Parteien geworden. Dies stellt einen politischen Bruch zu den dominierenden Narrativen der letzten 20 Jahre dar und könnte eine Erklärung für den Wiederaufstieg der Sozialdemokratie in vielen Ländern bieten.

Gerechtigkeit durch Bildung

Die Mitte-Links-Parteien der ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts waren geprägt durch Figuren wie US-Präsident Bill Clinton, UK-Premierminister Tony Blair und Bundeskanzler Gerhard Schröder. Als Reaktion auf einen stärker werdenden Glauben an freie Märkte und Deregulierung, beschränkten sich die progressiven Parteien auf das Ideal der Chancengleichheit. Sozialdemokratische Sozialpolitik fokussierte sich darauf, jede*r Bürger*in die gleiche Möglichkeit zu geben, sozial aufzusteigen. Der Ausbau der Kinderbetreuung, die erhöhte Flexibilität des Arbeitsmarkts und Weiterbildungsmaßnahmen wurden zu den neuen Lieblingsinstrumenten der regierenden Mitte-Links-Parteien. Nicht ohne Erfolg: Unter Blair wurde die Kinderarmut im Vereinigten Königreich erheblich gesenkt, Schröders Reformen haben zum Teil zur Senkung der Arbeitslosigkeit in Deutschland beigetragen und die Beteiligung von Frauen im Arbeitsmarkt ist stark angestiegen.

Neben der Fokussierung auf Chancengleichheit hatte diese Art der Sozialpolitik den Anspruch, die ökonomische Dynamik nachhaltig zu verbessern. Statt von Solidarität, sprach man von sozialen Investitionen. Der alte Traum der Sozialdemokratie, sozialen Fortschritt und Marktwirtschaft zu vereinen, schien zum Greifen nah. Die neue Politik kam ohne Appelle an die Solidarität aus, war sie doch gleichzeitig auch wirtschaftlich vernünftig. Obama verteidigte seine Reformen häufig nur damit, dass sie „smart“ seien. In Deutschland sprach Schröder davon, dass es keine „rechte“ oder „linke“ Wirtschaftspolitik mehr gäbe, sondern nur noch „gute“ und „schlechte“.

Die Solidarität kommt unter die Räder

Man stand, bewusst oder unbewusst, in einer Tradition des sozialen Liberalismus, wie von John Rawls postuliert. Mit Hilfe seines berühmten „Schleier des Nichtwissens“ sollten abstrakte Gerechtigkeitsregeln gefunden werden, die in einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichen Wertvorstellungen von allen akzeptiert werden können. Der Ausgangspunkt eines rationalen, nutzenmaximierenden Individuums, wurde nicht in Frage gestellt. Mit Rawls konnte sich die Sozialdemokratie auf abstrakte Gerechtigkeitsideen stützen, statt auf einer Erzählung, die auf Solidarität und Respekt abzielt.

Das neue zu erstrebende Ziel wurde die Meritokratie – also die Idee, dass allein die Leistung entscheidend für den finanziellen Erfolg sein soll. Bildung wurde die Lösung für nahezu jedes gesellschaftliche Problem. „Chancen“, „Möglichkeiten“ und „sozialer Aufstieg“ wurden zum Lieblingsvokabular aller sozialdemokratischen Wahlkämpfe. Soziale Sicherheit hingegen wurde nicht mehr adressiert. Statt den Einzelnen vom Markt abzuschirmen, ging es jetzt nur noch darum, den Einzelnen bestmöglich für den zunehmenden internationalen Wettbewerb vorzubereiten. Ungleichheit wurde nicht mehr als Problem anerkannt.

Doch die Meritokratie hatte negative Nebeneffekte. Die finanziell Erfolgreichen in der Gesellschaft wurden davon überzeugt, dass ihr Einkommen ausschließlich Folge ihres eigenen Verdiensts und nicht von Strukturen oder glücklichen Umständen ist. Meritokratie bedeutet jedoch für all die, die den gesellschaftlichen Aufstieg nicht erreicht haben, dass sie für ihre Situation selbst die Schuld tragen. Jeder kann es doch schaffen, wenn er oder sie es nur versucht und sich anstrengt. Für diese Bevölkerungsschicht war kein Platz mehr in der sozialdemokratischen Erzählung.

Die Rückbesinnung

Der Erfolg progressiver Parteien in den letzten Jahren gründet sich auch darauf, dass die Grenzen der Meritokratie erkannt und die Solidarität wiederentdeckt wurde. Unter anderem Michael Sandel, der US-amerikanische Philosoph, hat zu diesem Verständnis beigetragen, wie Olaf Scholz während des Wahlkampfs mehrfach betonte. Seine Wahlkampagne war geprägt von einer Erzählung über eine Gesellschaft, in der jeder Mensch, unabhängig von seinem Einkommen wertgeschätzt wird. Auch ohne ökonomischen Aufstieg und ohne Universitätsabschluss soll ein gelungenes Leben möglich sein. Durch Maßnahmen, wie z.B. die Erhöhung des Mindestlohns wird diese Wertschätzung ausgedrückt. Man vertraut nicht mehr dem Markt allein, den Wert von Arbeit zu bestimmen. Mit der Reform des Hartz 4-Systems soll die soziale Sicherheit gestärkt werden. Der Einzelne ist nicht mehr nur zu aktivieren und weiterzubilden, sondern auch zu schützen.

Mit der Rückbesinnung auf die Werte von Solidarität, Respekt und Sicherheit scheint die Sozialdemokratie Antworten auf die gesellschaftliche Spaltung und den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien gefunden zu haben. Somit könnte diese politische Entwicklung zu etwas beitragen, was viel wichtiger ist als der Erfolg einer politischen Partei, der Stärkung der Demokratie.

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