Die Errungenschaften der Menschheit sind in vielerlei Hinsicht erstaunlich und beeindruckend. Die Fähigkeit allerdings, mögliche Herausforderungen und Krisen zu antizipieren und Antworten darauf zu finden, gehört nicht immer dazu. Es liegt in der Natur des Menschen, immer erst dann auf Krisen zu reagieren, wenn es bereits zu spät ist.
Zugegeben, empirisch überprüfbar ist diese Aussage nicht, denn nicht geschehene Ereignisse lassen sich nicht überprüfen. Die Geschichte offenbart uns diese Reformuntätigkeit allerdings immer wieder und das nicht selten im Zusammenhang mit politischer (Un-)Tätigkeit.
Die aktuelle Pandemie ist dafür, mal wieder, ein offenbarendes Beispiel. Das RKI führte 2013 das Szenario einer SARS-Pandemie durch und sagte damals die heutige Situation mit erschreckender Präzision voraus. Trotz zweier nationaler Pandemiepläne und der Unterrichtung der Bundesregierung durch den Bundestag, blieben die empfohlenen Maßnahmen, etwa die Beschaffung von Masken oder Desinfektionsmitteln, aus.
Doch auch die Europäische Union (EU) selbst, ist ein Beispiel für dieses Phänomen. Entstand sie doch als Reaktion auf die zwei zerstörerischen Weltkriege, um den Frieden in Europa zu sichern. Seit ihrer Gründung stand das Projekt aber immer wieder auf wackeligen Beinen und musste Lösungen auf bevorstehende und aktuelle Krisen finden.
Die Geschichte der europäischen Problemlösungsversuche
Die Idee eines Gremiums, dass gemeinsam über die Zukunft der EU berät und Lösungen für solche bevorstehenden und akute Probleme finden soll, ist nicht neu. Vor genau zwanzig Jahren wurde der Europäische Konvent zur Zukunft Europas einberufen, der genau dies tat und die Aufgabe hatte, eine europäische Verfassung auszuarbeiten.
Die damaligen Herausforderungen bestanden darin, die EU handlungsfähiger, effizienter und demokratischer zu gestalten und die politische Union zu vollenden: Wichtige Maßnahmen zur Weiterentwicklung und Verbesserung der EU, scheiterten in den Jahren zuvor am Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat, da faktisch jeder Mitgliedsstaat ein Veto hatte. Es musste ein Weg gefunden werden, wie die Erweiterung der EU durch die 12 neuen Beitrittskandidaten institutionell organisiert wird. Außerdem sollte die Ausarbeitung neuer Verträge demokratischer und transparenter werden. Die Einberufung des Konvents im Jahr 2002 war somit eine kleine Revolution, da dieser nun, bestehend aus Vertreter*innen der EU-Organe (Europäisches Parlament, Europäischer Rat und Europäische Kommission), den nationalen Parlamenten und Regierungen, die Aufgabe übernehmen sollte, eine Antwort auf diese Herausforderungen zu finden.
Am Ende stand nach langen Verhandlungen ein Verfassungsentwurf, der dann aber kurze Zeit später durch Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wieder vom Tisch gefegt wurde. Und auch wenn die Ablehnung des Verfassungsentwurfs als Denkzettel gegen die nationalen Regierungen interpretiert wird , die fehlende Einbindung der europäischen Bevölkerung in den Ausarbeitungsprozess und die damit fehlende Legitimation der Verfassung, waren ein weiterer Grund für das Scheitern.
Szenenwechsel in das Jahr 2021.
Fast genau zwanzig Jahre nach dem Konvent, wird ein neues Gremium einberufen: Die Konferenz zur Zukunft Europas. Sie ging am 09. Mai mit dem großen Versprechen an den Start: die EU-Organe wollen die Interessen und Wünsche der Bürger*innen Europas als Grundlage nehmen, um Leitlinien für die zukünftige Gestaltung der EU zu entwerfen. (alle Fragen und Antworten zur Konferenz gibt es hier). Dieses Versprechen und die Einberufung der Konferenz sind lobenswert. Zeigt es doch, dass die Politik in Brüssel Lehren aus den Erfahrungen des Konvents gezogen und erkannt hat, wie wichtig die Stimme der Bürger*innen für die Zukunft Europas ist.
Mittlerweile regelt der 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon das institutionelle Zusammenspiel der EU-Organe. Doch trotz dem Fakt, dass er große Teile des Verfassungsentwurfs übernommen hat, schlitterte die EU im letzten Jahrzehnt von einer Krise zur nächsten.
Die Konferenz ist ein Produkt dieser Krisen und als überzeugte*r Europäer*in möchte man sich freuen und denken, die europäische Politik hat endlich einen Lösungsmechanismus für zukünftigen Herausforderungen gefunden. Denn es sind vor allem zwei fundamentale Gefahren, die sich aus den Krisen ergeben und die das Potential haben, der EU langfristig zu schaden, sollte die Chance der Konferenz nicht genutzt werden.
Sinkendes Vertrauen und Euroskeptizismus.
Das Erstarken der europafeindlichen und populistischen Kräfte in Europa ist ein langsamer aber schon seit einiger Zeit andauernder Prozess. Auf europäischer Ebene wurde das zum ersten Mal durch den Brexit deutlich, gefolgt von einer Europawahl 2019, bei der die drei rechtspopulistischen und europafeindlichen Parteien zulegten und zusammen auf insgesamt 22 % kamen.
Die Wahlbeteiligung war 2019 die höchste seit 20 Jahren und viele Bürger*innen gaben ihre Stimme mit der Hoffnung ab, Veränderungen und mehr demokratische Teilhabe zu erreichen. Dass sich der Rat danach bei dem Vorschlag der Kommissionspräsidentschaft dem demokratischen Willen widersetzte und nach langen Hinterzimmergesprächen Ursula von der Leyen als Kandidatin aus dem Hut zauberte, war Wasser auf den Mühlen der Eurokritiker*innen und ließ enttäuschte Wähler*innen alleine zurück.
Die Europafeindlichen Kräfte sind eine Gefahr für das Friedensprojekt Europa, ihr Aufstieg aber auch ein Ergebnis der Reformuntätigkeit der europäischen Politik selbst. Die vielen Krisen der letzten Jahre, eine fehlende europäische Identität und die parallel dazu anwachsenden nationalen populistischen Bewegungen, trugen zu ihrem Aufstieg bei.
Die Konferenz ist nun eine Chance, dieses Vertrauen wieder herzustellen
Die Konferenz ist nun eine Chance, dieses verloren gegangene Vertrauen wieder herzustellen, die europäischen Prozesse auf demokratische Grundpfeiler zu stellen und den Eurokritikern*innen entschieden entgegen zu treten. Von allein wird das allerdings nicht passieren und nur die bloße Durchführung der Konferenz wird dabei nicht ausreichen.
Es braucht eine Verpflichtung der EU-Organe zur Konferenz und ihrer Ergebnisse. Dazu zählt, den Bürger*innen ernsthaft zuzuhören und keine inhaltlichen Schranken bei den zu besprechenden Themen aufzustellen. Die EU gibt den Bürger*inne das Versprechen, ihnen jetzt aktiv zuzuhören. Eine Konferenz, bei der sich die Bürger*innen und die Zivilgesellschaft aktiv bemühen, Zeit investieren um mitzumachen und etwas zu verändern, die aber dann im Nachhinein enttäuscht werden, weil alle Vorschläge und die Ergebnisse der Konferenz in den Schubladen der EU-Organe verschwinden, könnte das Vertrauen in die EU endgültig verspielen.
Die Organe müssen daher bereit sein, auf die Ergebnisse der Konferenz einzugehen und diese umzusetzen. Wenn der europäischen Bevölkerung das Gefühl zurückgegeben wird, dass Brüssel aktiv zuhört und sie mit in den Prozess der Zukunftsgestaltung einbindet, kann dies ein effektiver Mechanismus werden, um den Euroskeptizismus zu stoppen.
Reformstarre und interinstitutionelle Machtkämpfe
In vielen wichtigen Bereichen tritt die europäische Politik regelmäßig auf der Stelle und findet keine angemessene Antworten. Sie blockiert und lähmt sich damit selbst. Das weiterhin, in einigen Bereichen bestehende Einstimmigkeitsprinzip im Rat und die wachsende ideologische Polarisierung der Länder führt genau dazu.
Gut zu erkennen war das bei dem Streit um den Haushalt der EU, den Rechtsstaatsmechanismus oder bei der Lösungsfindung zur Bewältigung der Asylkrise. Das ideologische Auseinanderdriften der Länder im Rat führte dazu, dass die Lösungs- und Kompromissfindung, die auf Einstimmigkeit beruhen muss, immer schwieriger wird. Die Konsequenz daraus sind aufgeweichte Kompromisse, wie es der Rechtsstaatsmechanismus geworden ist, die keine angemessene Lösung auf die Probleme unserer Zeit und den Krisen der EU geben.
Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen, da die Probleme sich nicht durch abwarten oder Kompromisse, die es allen recht machen wollen, lösen lassen. Die Konferenz hat das Potential, für diese Probleme eine Lösung zu finden. Doch diese Lösungen sind nur relevant, wenn die EU-Organe die Ergebnisse der Konferenz ernst nehmen und sich zur deren Umsetzung verpflichten. Wenn eines der Konferenzergebnisse eine Reformierung der Verträge und damit der institutionellen Struktur der EU ist, dann muss sich auch damit auseinandergesetzt werden. Das Europäische Parlament hat verpflichtenden Umsetzung bereits zugestimmt, der Standpunkt der Kommission ist dagegen eher verhalten und der Rat lehnt sie von vornherein ab.
Der schmale Grat zwischen großem Erfolg und noch größerem Scheitern.
Die EU gehört mit Sicherheit zu den beeindruckenden Errungenschaften der Neuzeit. Ein Erfolg, den es zu bewundern und zu bewahren gilt. Noch nie war der Frieden auf diesem Kontinent so lang und stabil. Noch nie waren die Völker Europas geeinter als jetzt und dass die junge Generation, zu der ich gehöre, den Krieg nur aus den Geschichtsbüchern kennt und frei über alle Grenzen hinweg leben und arbeiten kann, ist ihr zu verdanken.
Trotz dieser großen Erfolge muss sich die EU immer wieder existenziellen Krisen stellen und Lösungen für diese finden. Die Konferenz ist nun eine Chance, ein großer Erfolg für das europäische Projekt zu werden: Ein neues Gremium, dass die EU erneuern, reformieren und demokratischer machen kann. Die nötigen Schritte und Maßnahmen dafür wurden hier beschrieben. Sollte die europäische Politik diese nicht berücksichtigen, droht ein Bumerang-Effekt, der die Chance der Konferenz von großem Erfolg zu größerem Scheitern, ganz schnell umdrehen kann. Wir sollten alle dabei mithelfen und unsere Stimme noch deutlicher machen, damit das nicht passiert.
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