Sophie Pornschlegel im Interview

Eine europäische Öffentlichkeit: Spielregeln oder spielerisch regeln?

, von  Carolin Hilkes

Eine europäische Öffentlichkeit: Spielregeln oder spielerisch regeln?
Um eine europäische Öffentlichkeit zu fördern, muss die EU vor allem in ein Europa der Bürger*innen investieren, fordert Sophie Pornschlegel. Foto: Frederike van der Straeten.

Was kommt zuerst: Eine europäische Öffentlichkeit, um unsere Werte zu debattieren und festzulegen? Oder festgelegte Spielregeln, damit eine europäische Öffentlichkeit entstehen kann? Wir haben mit Sophie Pornschlegel, Policy Fellow bei der Denkfabrik „Das Progressive Zentrum“, darüber gesprochen, wie eine europäische Öffentlichkeit im Jahr 2025 aussehen könnte, was bis dahin passieren muss – und wie du einen Beitrag dazu leisten kannst.

Bis zum Jahr 2025 wird sich dank der politischen Erfolge der EU und einem Wandel unserer Mentalität eine pluralistische europäische Öffentlichkeit bilden. Wir Europäer*innen erkennen zunehmend, dass wir gemeinsam stärker sind und kehren dem Nationalismus den Rücken. Unsere gemeinsamen Werte bilden die Basis für eine pluralistische Debatte im öffentlichen Raum. Hier werden die Werte der EU und ihrer Bürger*innen immer wieder neu definiert, konkretisiert und an soziale, politische und ökologische Entwicklungen angepasst und überprüft. Unsere Solidarität miteinander wird dazu beitragen, die Herausforderungen der Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft langsam, aber sicher zu überwinden.

Dieses Zukunftszenario ist die Vision einer achtköpfigen Arbeitsgruppe, die im Rahmen des „Daring New Spaces“ Event des Progressiven Zentrums in Berlin Ideen für den Ausbau einer europäischen Öffentlichkeit skizzierte. Die Arbeitsgruppe zum Thema „Gelebte Europäische Werte“ wurde von Sophie Pornschlegel geleitet.

Sie arbeitet als Senior Policy Analyst beim Brüsseler Think Tank „European Policy Centre„und ist Projektleiterin von „Connecting Europe“, welches zum Ziel hat, die Zivilgesellschaft mit EU-Entscheidungsträger*innen zu verbinden.

Im Namen ihrer Arbeitsgruppe fordert sie: Gemeinsame Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Respekt für Freiheit, Demokratie und Gleichheit müssen das Fundament einer starken europäischen Öffentlichkeit bilden. Mit dem Ausdruck europäische Öffentlichkeit ist ein gesellschaftlicher Raum gemeint, in dem Einzelpersonen über gemeinsame Angelegenheiten diskutieren können.

treffpunkteuropa.de: Was können wir uns unter diesen „gelebten Werten“ vorstellen?

Sophie Pornschlegel: Juristisch gesehen werden die Werte der EU im Artikel 2 EUV und in der Grundrechtecharta definiert. Aber sie bleiben auch eine Frage der Interpretation. Es ist schwierig zu bestimmen, was festgelegt werden darf und was in den politischen Prozess eingebracht und eben dank einer europäischen Öffentlichkeit besprochen werden sollte. Denn Werte sind nicht in Stein gemeißelt, sondern ändern sich. Manche Werte erhalten mit der Zeit eine neue Wichtigkeit, die sie vorher nicht hatten.


Werte der Europäischen Union in Anlehnung an Artikel 2 des EU-Verfassungsvertrages (EUV).

Grafik erstellt von Carolin Hilkes.


Wie definiert Artikel 2 des EU-Verfassungsvertrages (EUV) grundlegende Werte? „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Was besagt die Charta der Grundrechte der EU? Die Grundrechtecharta definiert die Rechte und Freiheiten der Menschen, die in der EU leben. Sie ist in sechs große Kapitel eingeteilt: Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte, und justizielle Rechte. Sie wurde bereits 2000 anlässlich des Europäischen Rates von Nizza von den Präsident*innen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission unterzeichnet. Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon in Jahr 2009 ist sie rechtlich bindend. Dadurch erlangten EU-Bürger*innen eine rechtliche Grundlage, um ihre Grundrechte einklagen zu können. Lediglich für Polen (und Großbritannien) gelten bestimmte Ausnahmen.

Außerdem ist es wichtig, dass wir Werte nicht als etwas Abstraktes verstehen, sondern dass sie gelebt werden – was auch namensgebend für unsere Arbeitsgruppe „Gelebte Europäische Werte“ war. Im Beispiel des Wertes der Rechtsstaatlichkeit bedeutet das, dass die Unabhängigkeit der Justiz jeder*m Bürger*in wichtig sein sollte, weil es konkrete Auswirkungen auf ihr Leben hat: Nur so können wir uns beispielsweise sicher sein, dass wir vor unabhängigen Richter*innen sitzen, die keine politische Agenda verfolgen. Es ist wichtig, diese Bedeutung erlebbar zu machen und an die Bevölkerung zu bringen.

„Es war naiv, zu glauben, dass es keine demokratischen Rückschritte geben würde“

treffpunkteuropa.de: Weltweit ist eine Art demokratischer Rückschritt zu beobachten und auch in einigen EU-Mitgliedstaaten stehen die Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz, Meinungsfreiheit und Medienpluralität stark in der Kritik. Wo bleibt da die Gemeinsamkeit in unseren Werten?

Sophie Pornschlegel: Wenn die Verbindung zwischen der Gesellschaft, die dank einer Öffentlichkeit debattiert, und den Werten in den Verträgen nicht mehr da ist, stellt das die Demokratie vor ein Problem. Auf europäischer Ebene ist das besonders problematisch, weil es keine politische Gemeinschaft gibt, wie beispielsweise auf nationaler Ebene, die einen Austausch darüber ermöglichen würde.

Es gibt auf EU-Ebene nur formale Kriterien, wie beispielsweise die Kopenhagener-Kriterien, die besagen, dass Staaten erst einmal gefestigte Demokratien sein müssen, um der EU überhaupt beitreten zu können. Allerdings war es ein stückweit naiv von Politiker*innen, zu glauben, dass es keine demokratischen Rückschritte geben würde. Sie hofften lediglich, dass sich mit mehr Integration auch solche Differenzen erübrigen würden. Heute können wir erkennen, dass das ein großer Fehler war und mehr Integration nicht gleich mehr Verständigung und Verständnis bedeutet.

„Die EU hätte viel früher in ein Europa der Bürger*innen investieren müssen“

treffpunkteuropa.de: Welche Maßnahmen sollte die EU ergreifen, um diesen Differenzen entgegenzuwirken und ihre grundlegenden Werte erlebbar zu machen?

Sophie Pornschlegel: Statt auf eine Wunderheilung durch mehr Integration zu hoffen, hätte die EU viel stärker, viel früher in ein Europa der Bürger*innen investieren müssen. Sie hätten mehr Austausch fördern sollen, anstatt es als nette Ergänzung zum Binnenmarkt zu betrachten. Erasmus+ hätte von vorneherein viel größer gedacht werden können, um alle zu inkludieren. Genauso hätte man das DiscoverEU-Programm, das Interrail-Tickets an 18-Jährige verteilt, viel früher einführen können – zum Glück gab es die FreeInterrail-Kampagne, die das durchsetzen konnte. Bisher hat die EU die Bürger*innen vor allem in ihrer wirtschaftlichen Rolle als Verbraucher*innen oder als Arbeitskräfte wahrgenommen – nicht aber in ihrer politischen Rolle.

Doch nun zu den Lösungsansätzen: Zunächst könnte die EU die Mehrsprachlichkeit ihrer Bürger*innen verstärkt fördern: sowohl das Erlernen von Sprachen anderer EU-Mitgliedstaaten als auch der Erwerb von Englischkenntnissen. Das würde dazu führen, dass wir uns untereinander besser verständigen können. Darüber hinaus sollte die EU stärker und schneller durchgreifen, wenn EU-Mitgliedstaaten in autoritäre Regime abrutschen. Dabei geht es nicht nur um Polen und Ungarn, sondern beispielsweise auch um Bulgarien. Dass die europäische Volkspartei bis vor kurzem die Fidesz-Partei von Viktor Orbán in seinen Reihen geduldet hat, ist skandalös. Das Problem liegt also daran, dass der politische Wille fehlt – technokratische Ansätze werden das Rechtsstaatlichkeitsproblem nicht lösen.

Mehr über die Lösungsansätze der Arbeitsgruppe „Gelebte Europäische Werte“ findest du hier.

„Ohne europäische Öffentlichkeit haben wir ein Demokratieproblem in der EU“

treffpunkteuropa.de: Gerade zu Pandemiezeiten wird unsere Kommunikation immer digitaler. Soziale Netzwerke bieten neben großartigen Möglichkeiten zur Vernetzung auch Raum für Desinformation, Hass und Hetze. Zunehmend wird nun die Regulierung von digitalen Plattformen diskutiert. Inwiefern lässt sich die jetzige Form digitaler Kommunikation mit „gelebten europäischen Werten“ vereinbaren?

Sophie Pornschlegel: Es ist schwierig, eine Werte-Priorisierung für alle vorzunehmen und zum Beispiel zu sagen, Medienpluralismus sei das allerhöchste Gut und alles andere weniger wichtig. Das muss zwischen den Bürger*innen ausgehandelt werden, nur gibt es dafür eben nicht die Öffentlichkeit, wo sowas debattiert werden könnte. Doch für eine europäische Öffentlichkeit bedarf es gemeinsamen Spielregeln – also ein Mindestmaß an gemeinsamen Werten. Es bleibt das Henne-Ei-Problem: Was kommt zuerst? Die Werte oder die europäische Öffentlichkeit? Fest steht: Ohne europäische Öffentlichkeit haben wir im Grunde ein Demokratieproblem, weil wir unsere Werte nicht unter- und miteinander diskutieren können.

Zusätzlich eröffnet zwar die digitale Sphäre neue Möglichkeiten der Kommunikation, aber auch hier fehlen die Spielregeln. Deshalb ist es gut, dass die EU-Kommission sich mit dem Thema beschäftigt und digitale Plattformen besser regulieren möchte. Mit dem Digital Services Act hat die EU-Kommission schon erste Schritte eingeleitet und ich bin zuversichtlich, dass das in die richtige Richtung geht.


Es steht die Frage im Raum: Wer trägt die Verantwortung für den (fehlenden) gesellschaftlichen Diskurs?

Foto: Unsplash / Arno Senoner / Unsplash License


treffpunkteuropa.de: Oftmals entsteht eine diskussionsfreudige Öffentlichkeit gerade auf zunehmender Polarisierung der Gesellschaft, wie beispielsweise in der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl 2020 zu beobachten war. Wie lassen sich diese beiden Ziele – eine rege politische Debatte und gesellschaftliches Verständnis – miteinander vereinbaren und Polarisierung vermeiden?

Sophie Pornschlegel: Meiner Meinung nach schließt das eine das andere nicht aus. Es braucht ja keine Beleidigungen, um eine argumentative Debatte zu führen. Allerdings haben wir verlernt, Ambiguitäten zu tolerieren. Oftmals gibt es keine Grauzone mehr, sondern alles ist schwarz oder weiß, es wird stark über die andere Position geurteilt. Für manche identitätspolitischen Fragen ist das natürlich wichtig. Beispielsweise rassistische Äußerungen dürfen nicht akzeptiert werden und es muss sich klar dagegen gewehrt werden. Gleichzeitig heißt das aber nicht, dass jedes Argument, mit dem mensch nicht einverstanden ist, gleich abgewertet oder verurteilt werden sollte. Und dieser Unterschied fehlt aktuell oft in der Debatte.

„Personen, die sich als europäisch identifizieren, gehören meistens zu einer wohlhabenden, mobilen und multilingualen Schicht – dadurch ist die europäische Identität aber exklusiv statt inklusiv“

treffpunkteuropa.de: Sie haben die Moderation der Arbeitsgruppe übernommen. Warum ist es Ihnen wichtig, diese gesellschaftliche Debatte auch über das Projekt hinaus zu führen?

Sophie Pornschlegel: Als Deutsch-Französin sind mir die Unterschiede in den nationalen Debatten und in den Denkweisen sehr bewusst. Nur durch einen konstanten Austausch und Dialog dadurch werden wir es schaffen, europäisch zu denken. Das heißt nicht, dass alle sich als Europäer*innen identifizieren müssen, sondern dass alle Bürger*innen die Vorteile einer gemeinsamen Kooperation auf politischer Ebene verstehen. Spätestens zu Beginn der Pandemie haben wir ja gesehen, dass uns nationales Klein-Klein in einer globalisierten Welt nicht weiterhilft.

treffpunkteuropa.de: Was können unsere Leser*innen aus dieser Unterhaltung lernen und zu einer EU der gelebten Werte beitragen?

Sophie Pornschlegel: Gerade die Menschen, die sich pro-europäisch fühlen, tendieren dazu, eine Blase zu bilden und unbewusst andersdenkende Menschen zu exkludieren: Ich bin Europäer*in und du denkst nicht pro-europäisch. Ein wichtiger erster Schritt wäre es, eine Offenheit zu entwickeln und zu verstehen, warum sich manche Leute eben nicht europäisch fühlen. Ansonsten laufen wir Gefahr, ein Europa der Eliten zu reproduzieren, in dem „sich europäisch fühlen“ zu einer elitären, mobilen, mehrsprachigen Identität wird. Die Bildung einer solchen Exklusionsidentität, grade an europäischen Schulen, wird auch durch Studien belegt.

Es ist wichtig, dagegen zu arbeiten und auch uns selbst im ersten Schritt selbst einmal mit Fragen zu beschäftigen, wie: Was sind eigentlich meine Werte? Teile ich diese mit anderen Europäer*innen? Im zweiten Schritt sollten wir mit anderen in den Austausch gehen und über unsere Werte und Denkweisen sprechen. Wir sollten uns unserer Differenzen bewusst werden – aber dabei auch stärker einen Blick auf die Gemeinsamkeiten werfen.

Die in diesem Artikel verwendeten Begriffe „europäische Werte“ und „Werte der EU“ dienen als Sammelbegriffe für die Werte, die die EU im Artikel 2 EUV und der Grundrechtecharter als ihre Grundlage festlegt. Der Begriff soll in diesem Kontext nicht suggerieren, dass die dort dargelegten Werte allein europäisch sind oder sein können. Diese Werte können universell gelesen werden und es berufen sich viele andere internationale und individuelle Akteur*innen auf sie. Gleichzeitig weisen die EU und ihre Mitgliedstaaten auch Handlungen auf, die diese Werte nicht einhalten.

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