Einmal Freiheit, sechsmal lebenslänglich

, von  Grischa Alexander Beißner

Einmal Freiheit, sechsmal lebenslänglich
Monatliche Mahnwache am Jahrestag der Verhaftung Denis Yücels in dessen Heimatstadt Flörsbach am Main Foto: Sebastian Scholl / Flickr / Creative Commons 2.0-Lizenz

Deniz Yücel ist frei. Nach 367 Tagen Haft ohne Anklage wurde der Journalist von der türkischen Justiz willkürlich freigelassen. Während Yücel seine ersten Schritte zurück in die Freiheit machte, verurteilte ein Gericht im selben Gefängniskomplex sechs andere Journalisten zu lebenslanger Haft. Die Freilassung Yücels ist ein Grund zur Freude, zugleich aber auch ein Zeichen, wie weit sich Erdogans Regime von Rechtsstaatlichkeit verabschiedet hat. Denn die Verhaftungen von Kritikern weiten sich ständig aus.

Yücels Haft war ein Politikum, seine Freilassung ist es ebenso. Seine Untersuchungshaft wurde damit begründet, dass die Anschuldigungen schwerwiegend seien und es viel Zeit brauche, die Vorwürfe aufzuarbeiten. Nach 367 Tagen ist seine Anklageschrift nun gerade mal drei Seiten lang. Und selbst ein in einem seiner Artikel wiedergegebener Witz über Türken und Kurden muss als „Beweis“ herhalten.

Frei bedeutet allerdings nicht gleich Freiheit. Yücel konnte aus der Türkei zwar ausreisen, aber die Anklage dort bereitet dennoch den Prozess vor. Dieser soll im Juni beginnen und im Falle einer Verurteilung drohen Yücel vier bis achtzehn Jahre Haft.

Ausliefern wird ihn Deutschland wegen dieser fadenscheinigen Anklage nicht. Doch wenn ihn das Gericht schuldig spricht, wird er in die Türkei nicht mehr einreisen können. Im Grunde kommt es damit einem Exil gleich. Yücel selbst hat bis heute weder die Gründe für seine Verhaftung, noch für seine Freilassung erfahren, wie er in einem Videonach seiner Freilassung auf Twitter erklärt.

Der Fall Yücel – eine politische Geiselhaft

Ein Spion und Terrorist, der niemals freikommen werde, solange er im Amt sei – so schimpfte der türkische Machthaber Erdogan über den Journalisten. Bis heute gibt es keinen einzigen glaubhaften Beweis für diese Vorwürfe gegen Deniz Yücel. Ein Buch des angeblichen Putsch-Drahtziehers Fetullah Gülen soll er besessen haben, soll mit Personen gesprochen haben, die der kurdischen PKK nahestünden. Vor allem Yücels Artikel seien Beweise für die Vorwürfe, so der Haftbefehl vom 27. Februar 2017.

Ein Jahr lang blieb der Journalist Erdogans Geisel. Beschwerden am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und beim türkischen Verfassungsgericht verpufften. Der Rechtsstaat in der Türkei ist längst ausgehebelt. Am 300. Hafttag veröffentlicht die WELT eine Sonderausgabe. Die Rückseiten der Zeitung ergeben zusammengelegt einen maßstabsgetreuen Grundriss von Yücels Zelle. Ein Leben auf 12,96 Quadratmetern.

Yücels Freilassung kam, wie auch seine Verhaftung, auf Anordnung von oben. Noch am 13. Februar empfahl ein Haftprüfungsgericht seine weitere Inhaftierung. Seine Anklagepunkte waren vorgeschoben, wie bei vielen anderen in der Türkei inhaftierten Journalisten auch. Seit dem Tag des Putschversuchs wurden 309 Reporter inhaftiert. Ungefähr 180 von ihnen sitzen noch im Gefängnis. Die Vorwürfe gegen Journalisten sind oft dieselben: „Spionage“, „Terrorpropaganda“ „Unterstützung einer Terrororganisation“ oder „Versuch, die Regierung zu stürzen“.

Tatsächlich wurden sie verhaftet, weil sie schlicht ihrem Beruf nachgingen. Aber in Erdogans Türkei gilt Kritik am Führer oder seiner Politik als Terrorismus.

6 : 1 gegen die Pressefreiheit

Zur selben Zeit, in der Yücel von seiner Frau und seinem Anwalt aus dem Hochsicherheitsgefängnis Silivri abgeholt wurde, verurteilte die türkische Justiz die Brüder Mehmet und Ahmet Altan zu lebenslanger Haft. In einer Fernseh-Talkshow sollen sie, einen Tag vor dem missglückten Putsch am 15. Juni 2016, angeblich geheime Botschaften ausgesendet haben. Auch die Journalistin und ehemalige Abgeordnete Nazli Ilicak wurden wie sie wegen angeblicher Unterstützung des „Putschisten-Netzwerks“ verurteilt.

Ursprünglich hatte das türkische Verfassungsgericht im Januar sogar die Freilassung von Mehmet Altan angeordnet. Aber die Regierung protestierte erbost, ein untergeordnetes Gericht weigerte sich, das höchstrichterliche Urteil umzusetzen, Altan blieb in Haft.

Zwei weitere am Tag von Yücels Freilassung Verurteilte, Yakup Simsek und Fevzi Yazici, arbeiteten für die kritische „Zaman“ Zeitung. Weil sie der Gülen-Bewegung nahestand, wurde die vormals auflagenstärkste Tageszeitung der Türkei inzwischen komplett verboten. Mit ihnen wurde auch Sükrü Özesengül, der zuletzt an der Polizeiakademie dozierte, zu lebenslanger Haft verurteilt. Alle drei waren des Versuchs, die Regierung zu stürzen und die Verfassung abzuschaffen, beschuldigt.

Yücels Freilassung kann man in diesem Zusammenhang auch als geschicktes Ablenkungsmanöver für die deutschen und europäischen Medien werten. Alle sprechen über Yücel, kaum jemand über die sechs Verurteilten. Bereits kritische Meinungsäußerungen, beispielsweise zur „Operation Olivenzweig“, der türkischen Invasion in Syrien, reichen inzwischen aus, um vom türkischen Regime verhaftet zu werden. Seit Januar wurden 786 Türken, die sich gegen die türkische Militäroffensive auf Afrin ausgesprochen hatten, als Landesverräter verhaftet. Oft wegen Kommentaren in sozialen Medien oder der bloßen Teilnahme an Demonstrationen.

Krieg ist Sicherheit, Meinungsfreiheit ist Verrat, Furcht ist Stärke

Wer die falsche Meinung äußert, der steht mit einem Bein im Gefängnis. Kritische Medien wurden verboten, gleichgeschaltete Medien haben sie ersetzt. Seit dem Putschversuch wurden Zehntausende verhaftet, über 150.000 Menschen wurden entlassen. Das sind nicht die Prinzipien einer demokratischen Justiz, das sind die Methoden von Willkür und Diktatur. In Einzelfällen wurden sogar Familienmitglieder oder Ehepartner verhaftet, um Druck auszuüben.

Es ist Terror gegen das eigene Volk. Jeder, der sich kritisch äußert, muss Angst haben.

Obwohl Erdogan öffentlich von Null Toleranz gegenüber Polizeifolter spricht, kommt es auch immer wieder zur Folter von Gefangenen. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch gibt es glaubhafte Berichte von Schlägen, von Gefangenen, die in Stresspositionen fixiert wurden, von Vergewaltigungsdrohungen und auch von Drohungen gegen Anwälte.

Kuhhandel, Geiseldiplomatie und deutsche Panzer?

Außenminister Sigmar Gabriel verkündete, dass es keine Rüstungsexporte mehr in die Türkei geben werde, solange der Fall Yücel nicht erledigt sei. Daraufhin erklärte Deniz Yücel, dass er „für schmutzige Deals nicht zur Verfügung stehe“. Zumindest der Bundesregierung zufolge hat es solche Deals bei der Freilassung des Journalisten nicht gegeben. Die offizielle Position lautet, dass dies zwar ein erster Schritt sei, aber noch lange nicht von einer Normalisierung der deutsch-türkischen Beziehungen gesprochen werden könne.

Auf türkischer Seite sieht man das anders. Man sei nun auf dem Weg zur Normalisierung und Deutschland solle die Auseinandersetzungen der letzten Monate begraben. Am Rande der Münchener Sicherheitskonferenz, direkt am Wochenende nach Yücels Freilassung, träumte der türkische Ministerpräsident Yildirim schon wieder vom gemeinsamen deutsch-türkischen Panzerbau. Auf der Konferenz erklärten die Außenminister Gabriel und Cavusoglu, man wolle nun die Beziehungen in den Bereichen Wirtschaft, Energie und Sicherheit wieder verbessern.

Warum Erdogan Yücel gehen ließ, darüber kann man nur mutmaßen. Unter der Geiselnahme Yücels litt das internationale Ansehen der Türkei, Reisewarnungen und mögliche Sanktionen machten der Wirtschaft zu schaffen. Nicht erst seit den Drohungen gegen die USA, welche die Kurdenmiliz YPG im Kampf gegen den IS unterstützen, sind die Beziehungen zwischen der Türkei und den NATO-Partnern schwierig. Allerdings hätte die Türkei auch dringend gerne mehr Munition für die deutschen Leopard II Panzer, mit denen gerade die Kurden in Nordsyrien angegriffen werden.

Auch nach Yücels Freilassung gehen die Repressionen weiter

Deniz Yücel ist frei, aber die Türkei hat keine Kehrtwende vollzogen. Im Gegenteil: Erdogans Regime ist aggressiver als zuvor, lässt Kritiker willkürlich verhaften und führt Krieg gegen die Kurden in Syrien. Noch immer sitzen Journalisten in Haft, schlicht, weil sie ihrer Arbeit nachgingen. Yücel hatte das Glück, Deutscher zu sein. Deshalb hatte er eine Lobby. Deshalb ließ man ihn frei. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, unabhängige Justiz - all das existiert in der Türkei nicht mehr. Deshalb kann und darf es keine Normalisierung der Beziehungen, kein Appeasement geben.

Fast vergessen erscheint bei all der Freude über Yücels Freiheit das Schicksal der deutschen Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu. Über Monate saßen sie und ihr zweijähriger Sohn in einem türkischen Gefängnis. Auch ist sie nicht die Einzige. Weitere Deutsche sind in der Türkei aus politischen Gründen inhaftiert. Allerdings ist medial über diese nicht viel bekannt. Mesale Tolu ist inzwischen zwar frei auf freiem Fuß, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihre Verhandlung wird im April fortgesetzt. Ihr drohen bis zu 20 Jahre Haft.

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