Ernest Renans Vorstellung einer Nation

, von  Übersetzt von Inga Wachsmann, Valéry-Xavier Lentz

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Ernest Renans Vorstellung einer Nation
Foto: © European Commission / 1996

Am 11. März 1882 hielt der französische Wissenschaftler Ernest Renan an der Sorbonne (Paris) einen Vortrag über die Idee einer Nation. Unter dem Titel „Was ist eine Nation?“ wird die Rede, die ein französisches Konzept dieses Begriffs beschreibt, berühmt. Französische Politiker aus der nationalistischen Ecke zitieren Renan häufig, um ihrer Ideologie einen republikanischen, progressiven Anstrich zu verschaffen.

Es ist eine typische Angewohnheit französischer Politiker, romantische Ausflüge dem Pragmatismus vorzuziehen und mit zahlreichen, bildhaften Zitaten großer Denker aus der Vergangenheit zu spicken, die manchmal falsch oder aus dem Zusammenhang gerissen sind. Eines der bekanntesten Beispiele ist das berühmte alltägliche Plebiszit, das die Nation definieren soll.

Der kurze Text von rund dreißig Seiten ist sicher das bekannteste Werk von Ernest Renan (1823 bis1892). Mit dem Text will er ein Missverständnis ausräumen: Die Verwechslung zwischen „Rasse“ und Nation. Er möchte das Konzept der Nation näher beschreiben und zeugt von Positivismus: Was wir tun werden ist schwierig, es ist wie eine Operation am lebendigen Leib, wir werden die Lebenden so behandeln, wie wir gewöhnlich die Toten behandeln. Wir werden dies nüchtern und absolut unbefangen tun […] Es ist die Zeit der Anfänge der Sozialwissenschaften.

Ernest Renan beobachtet die Teilung Europas seit dem Ende des Römischen Reiches und unterscheidet die osteuropäischen Kaiserreiche durch die Zusammenführung der Völker. Er stellt fest, dass sich die fränkischen Angreifer mit den Galloromanen vermischt haben und anschließend mit den Normannen.

Das Vergessen als historischer Fehler

Am Ende seines Textes schließt er: Ein wichtiger Bestandteil – ich würde es sogar als einen historischer Fehler beschreiben- zur Entstehung einer Nation ist das Vergessen, denn die Einheit findet immer abrupt statt. Damit die Bürger einer Nation etwas gemeinsam haben, müssen sie daher einen Teil ihrer Wurzeln vergessen.

Mit seiner Feststellung, dass die Nation das Ergebnis einer Reihe von in eine gleiche Richtung zielenden Ereignissen ist, schließt er aus, dass sie auf natürliche Weise entsteht. Um seine These zu untermauern, untersucht Renan anschließend die Verknüpfung zwischen Nation und Dynastie, zwischen Nation und Rasse, zwischen Nation und Sprache, Religion, Interessensgemeinschaft und Geographie, um sie als entscheidende Faktoren für die Definition einer Nation auszuschließen.

In Renans Vorstellung ist die Nation eine Seele, ein spirituelles Prinzip, welches aus zwei entscheidenden Teilen besteht: der Vergangenheit und der Gegenwart. Ein Teil ist das Vermächtnis einer Vielzahl gemeinsamer Erinnerungen, der andere ist der Wille, der Zuspruch, gemeinsam leben zu wollen und das erhaltene Erbe ungeteilt aufrechtzuerhalten.

Solidarität entsteht durch die geteilte Vergangenheit in der Nation. Der Zuspruch zu dieser Vergangenheit erhält die Solidarität. Renan erklärt: So wie die Existenz eines Individuums die unendliche Äußerung von Leben ist, so ist die Nation ein alltägliches Plebiszit. Eine, so Renan, pragmatischere Sichtweise als die Bekräftigung Gottes oder der Geschichte.

Da sich die Nation durch Zuspruch gründet, kann kein König mehr durch die Länder spazieren und Provinzen annektieren. Eine Provinz besteht aus Bürgern und letztere müssen zustimmen, um Teil der Nation zu werden.

Eine irredentistische Ideologie

Mit seinem Vortrag liefert Renan vor allem eine ideologische Umschreibung des nationalen Kitts und stützt damit irredentistische Forderungen. Er erzählt uns weniger über das Wesen der Nation, sondern erklärt vielmehr das Wesen des Nationalismus. Der Kontext seines Vortrags ist die Ausrufung der Dritten Republik nach der französischen Niederlage von 1870 und die Angliederung von Elsass-Lothringen an Deutschland. Damit dieses alemannische Gebiet wieder französisch werden kann, müssen andere Argumente als die der Nation gefunden werden.

Mario Albertini erläutert dies in Der Nationalstaat (L’Etat national). Zwei unterschiedliche Theorien der Nationalität – die französische Wahltheorie, die sich auf das nicht existierende alltägliche Plebiszit beruft und die deutsche Naturtheorie – werden so zusammengeführt. Die Unterscheidung zwischen Nationen als „Gemeinwesen“ hat damit nun ein willkürliches Kriterium. Das Paket nationaler Erfahrungen wird so in verschiedene Teile aufgespalten. Für jedes stellt sich die Frage nach dem Ursprung der Nation und der dazugehörigen nationalen Prinzipien.

Eine nähere Betrachtung der Vision Renans lohnt sich deshalb, weil sie sich auf zwei Annahmen stützt: Einerseits auf die Annahme der Nationalgeschichte, andererseits auf das berühmte Plebiszit. Indem die Historiker des 19. Jahrhunderts die Vergangenheit erforschten, haben sie gleichzeitig versucht die Gegenwart zu rechtfertigen. Eine Erzählung auf Ereignisse aufzubauen, die in modernen Staaten stattgefunden haben, und diese als Beginn einer Nationalgeschichte darzustellen, ist demnach ein historischer Fehlschluss, den auch Renan identifiziert. Gewohnheiten werden als bewusste Entscheidungen der Zugehörigkeit dargestellt.

Der Zuspruch der Elsässer und Moselaner, auf die sich Renan beispielsweise bezieht, wurde nicht formell abgefragt. Zudem sei gesagt, dass Renan zwar bemängelt, dass man einer Bevölkerung eine Angliederung einfach aufsetzen kann, die Französische Republik aber weiterhin ihr Kolonialreich weiterverfolgte.

Die Nation ist vergänglich

Die Metapher von Renan (das Plebiszit) erinnert uns daran, dass der nationale Mythos, der die Loyalität der Individuen zu ihrem Staat begründet, täglich erneuert werden muss. Dieser Aussage bedienen sich Leute, die Renan zitieren. Zu einer Zeit, in der wir versuchen Europa aufzubauen, wird diese Vision von manchen herangezogen, um einen Kitt zwischen den europäischen Bürgern herzustellen. Es ist sicher interessanter die Idee einer politischen Gemeinschaft zu verfolgen, die sich auf einen Verfassungspatriotismus à la Habermas stützt, als eine solche mythische Vision.

Renans Rede endet jedoch mit einer klaren Beobachtung: Die Nationen sind nicht von ewiger Dauer. Sie beginnen und sie werden irgendwann enden.

Ihr Kommentar
  • Am 31. Januar 2021 um 08:49, von  Shuara Als Antwort Ernest Renans Vorstellung einer Nation

    Sehr gut geschrieben. Manche Sachen versteh ich nicht ganz, vorallem das Plleszibit, aber ansonsten hat es mir sehr weitergeholfen für die Schule und das Leben.

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