Bis vor einem dreiviertel Jahrhundert war Krieg auf dem europäischen Kontinent nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Dank der europäischen Einigungspolitik und dem gemeinsamen Willen zu einer immer engeren wirtschaftlichen und politischen Union sind alte Rivalitäten mehr und mehr in den Hintergrund getreten und haben einem gemeinsamen Zweck und einem Gefühl der Zusammengehörigkeit Platz gemacht. Natürlich gibt es auch immer wieder Spannungen und Meinungsverschiedenheiten, aber diese werden am Konferenztisch diskutiert und nicht auf dem Schlachtfeld ausgetragen.
Dieses Europa der Kooperation und des friedlichen Wachstums leuchtet weit über seine Grenzen. Die meisten europäischen Länder, die noch keine EU-Mitglieder sind, suchen daher nach einer Möglichkeit, an dieser Strahlkraft teilzuhaben. Die EU ist für ihre Nachbarn ein sehr attraktiver Club – allerdings auch ein sehr exklusiver. Denn bevor man in diesen Club hineinkommt, wartet ein schwieriger und langwieriger Beitrittsprozess auf die Länder. Einige Länder stecken schon seit Jahren in dieser Warteschlange fest, andere scheuen bereits den Versuch, überhaupt in die Schlange zu kommen, weil von den Toren eine Atmosphäre reservierter Skepsis und sogar der Zurückweisung ausgeht.
Die Vernachlässigung der Nachbarn schwächt die Union
Dieses Gefühl der Abweisung führt schnell zu Resignation und Trotz – und treibt die potentiellen Neumitglieder stattdessen in die Arme undurchsichtiger Autokraten, die ihnen eine „offene Partnerschaft“ anbieten. Die neuen, ziemlich einseitigen Abhängigkeiten der Länder in diesen „Partnerschaften“ treten erst später zutage. Die verdeckte, zunehmend auch offene Einflussnahme von Autokratien bei diesen Nachbarn sollte die EU jedoch in Aufruhr versetzen und zum Nachdenken anregen. Denn diese Einflussnahme in direkter Nachbarschaft kann mittelfristig zu einer unangenehmen Störquelle für die EU werden und langfristig zu einer gefährlichen Schwächung der Union führen. Das hat auch der französische Präsident Emmanuel Macron erkannt und die Idee neuer europäischer Clubs platziert, die unabhängig von der EU agieren können. Eine Schaffung von Parallelstrukturen außerhalb der Union ist allerdings bestenfalls ein homöopathisches Herumdoktern an Symptomen, schlimmstenfalls schafft es neue europäische Dysfunktionalitäten, beispielsweise eine Lähmung durch entgegengesetzte Beschlüsse oder eine Aufteilung der begrenzten Aufmerksamkeits- und Personalressourcen. Des Weiteren sorgt das für neue Kompetenzstreitigkeiten, anstatt schlagkräftige Einigkeit zu forcieren. Es ist also keine tragfähige Lösung für ein schlagkräftiges Europa, sondern allenfalls eine weitere Gesprächsplattform, um den Sitzungskalender zu füllen. Dies wurde auch bereits beim ersten Gipfel von Marons „European Political Community“ in Prag sichtbar.
Level up: den Beitrittsprozess modularisieren
Wie aber verhindern wir die Abwendung enttäuschter Nachbarn von der EU? Sollte die Union einfach „die Tore aufmachen“, ihren erprobten Aufnahmeprozess über Bord werfen sowie Beitrittsformulare verteilen und unterschreiben lassen? Das klingt in den Ohren einiger Europa-Zyniker vielleicht nach einem „spannenden Experiment“, würde aber sehr schnell zu Chaos und Frust auf allen Seiten führen und damit niemandem helfen. Es könnte im Extremfall sogar zu einer Implosion, also zum Zerfall EU kommen, die katastrophale Folgen hätte und zu neuen Zollgrenzen, dem Kollaps ganzer Wirtschaftsbereiche und im allerschlimmsten Fall sogar kriegerischen Auseinandersetzungen untereinander führen könnte.
Nein, eine Abschaffung der in Tiefe und Umfang grundsätzlich sinnvollen Vorbereitungsmaßnahmen für eine EU-Mitgliedschaft ist keine Lösung. Wahr ist dennoch, dass der Beitrittsprozess schwerfällig und überholungsbedürftig geworden ist, dass Europa sich hier mehr und mehr selbst im Wege steht. Die EU braucht ein neues Modell, um europäisch orientierte, aber noch nicht vollständig beitrittsreife Länder an sich zu binden und auf ihrem Weg in ein gemeinsames Europa zu begleiten. Sie muss also Zwischenetappen neben der Vollmitgliedschaft schaffen, die eine Zugehörigkeit zur EU zeigen und das beiderseitige Interesse von Union und Beitrittskandidaten gut sichtbar machen. Wir brauchen ein Modell mit verschiedenen „Leveln“, wobei die Vollmitgliedschaft das finale Level darstellt, mit dem man dann auch – um dem Ansatz einer Gamification des Prozesses die Ehre zu geben – Erfolge wie „Stimmrecht im europäischen Rat“ und „Euro-Einführung“ freischaltet.
Im wirtschaftlichen Bereich gibt es mit dem europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bereits Ansätze für ein solches Levelmodell für (Noch-)Nicht-Mitglieder, auf denen man auch für andere Bereiche aufbauen kann. Aktuell bietet sich als nächstes Level besonders die Schaffung eines gemeinsamen Sicherheitsraumes mit vertiefter militärischer Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistandsversprechen an. Die Vorläufer einer solchen Kooperation finden sich ebenfalls bereits in der Geschichte der EU: in der Zeit von 1993 (Vertrag von Maastricht) bis 2009 (Vertrag von Lissabon) stellte die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eine der drei Säulen der Europäischen Union dar. Auch im Forschungsbereich gibt es mit dem Europäischen Forschungsraum (EFR) bereits ein Gremium, dessen Arbeit und Struktur man als Grundlage für eine über die Kernunion hinausreichende Zusammenarbeit nutzen kann, indem man es für interessierte europäische Staaten öffnet.
Neue Rechte und bewährte Pflichten für Beitrittskandidaten
Mit diesen und weiteren Feldern kann der Aufbau eines Multi-Level-Europas gelingen, mit der bisherigen Kern-EU als zentralem Anker und Herzstück, die alle Aspekte europäischer Zusammenarbeit vereint und als Taktgeber der europäischen Integration fungiert. Dabei muss klar sein, dass das bereits seit 1957 in den europäischen Verträgen festgehaltene Ziel der immer engeren europäischen Integration auch für die Teilbereiche im Multi-Level-Europa gelten muss. Das Erreichen der verschiedenen Level entspricht einer Teilmitgliedschaft in der Europäischen Union mit entsprechenden Rechten und Pflichten. So sind die in Artikel 2 des EU-Vertrags von Lissabon hinterlegten Werte wie Demokratie, Freiheit und Gleichheit bindende Voraussetzungen, die auf jedem Level erfüllt werden müssen. Eine Verletzung dieser Grundlagen bedeutet Game Over und führt zur Disqualifikation. Daran muss die europäische Kommission als Aufseherin über die Verträge auch gegebenenfalls rechtzeitig erinnern, bevor es zum Verlust des erreichten Status kommt.
Ein wünschenswerter Nebeneffekt eines solchen Levelsystems wäre die föderale Entflechtung der verschiedenen Politikbereiche voneinander. Weil auf den verschiedenen Leveln jeweils unterschiedliche Länder zu finden sind, neigt sich die Zeit europäischer Hinterzimmertricks und des politischen Kuhhandels, der viele Menschen immer wieder ratlos zurücklässt und für den Eindruck eines bürgerfernen Europas sorgt, dem Ende zu. Diese anachronistischen Mechanismen werden ersetzt durch regel- und mehrheitsbasierte Entscheidungsprozesse, ebenfalls überwacht durch die europäische Kommission. Der europäische Rat wird dabei immer mehr zu einer föderalen Länderkammer mit wechselnder Besetzung, die sich dann das Initiativrecht für politische Vorhaben mit dem europäischen Parlament teilt. Das Parlament als demokratische Herzkammer erfährt die notwendige Aufwertung und bildet für die EU-Staaten eine exklusive Koordinations- und Kooperationsebene, da nur EU-Vollmitglieder Abgeordnete ins EU-Parlament entsenden können.
Der gestufte Beitrittsprozess: ein Gewinn für alle
Ein solches Multi-Level-Europa macht den Einstieg in die EU einfacher und fließender, indem der Beitrittsprozess gestuft ablaufen kann und Länder gegebenenfalls auch auf einem bestimmten Level verharren können, wenn eine Vollmitgliedschaft für sie aus inneren oder äußeren Gründen (noch) nicht infrage kommt. Die Vorteile europäischer Kooperation sind dabei auf jedem Level unmittelbar für Bürgerinnen und Bürger sowie auch auf Staatsebene erfahrbar und nicht erst nach Jahrzehnten des Beitrittsprozesses. Dadurch wird auf allen Seiten Frust vermieden und stattdessen der europäische Geist der Kooperation gestärkt. Es wäre ein Gewinn für alle – Beitrittskandidaten ebenso wie etablierte Mitglieder.
Der richtige Zeitpunkt dafür ist gekommen und die Umstände sind ebenfalls günstig: durch den in der „Konferenz zur Zukunft Europas“ festgehaltenen Bürgerwillen stehen ohnehin Vertragsänderungen an; einen entsprechenden Antrag hat das europäische Parlament bereits an den Rat der europäischen Regierungschefs gestellt. Leider hat keiner der Staatschefs diesen Antrag beim letzten Gipfeltreffen angefasst, obwohl das Thema immerhin im Koalitionsvertrag der deutschen Ampel-Regierung steht. Wenn es aber in Beitritts- und Abstimmungsfragen keine Bewegung gibt, heißt es bald womöglich Game Over für die EU. Und dann würden dunkle Zeiten auf unseren Kontinent zukommen. Es bleibt also die Frage: Besitzen Scholz, Macron und Co. die politische Weitsicht, um die Strahlkraft der EU zu sichern und Europa aufzuleveln?
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