Europäische Krisenbewältigung: Deutschland ist kein Vorbild.

, von  Julius Leichsenring

Europäische Krisenbewältigung: Deutschland ist kein Vorbild.

Steigende Staatsverschuldung, wachsende Arbeitslosenzahlen und sinkende Zinsen sind Probleme der Wirtschafts- und Finanzkrise. Themen, um die man momentan nicht herum kommt. Sie bedrohen und beschäftigen die Menschen. Klar, dass sich auch die Europawerkstatt der JEF Ende vergangenen Jahres damit auseinandersetzte.

Karg ist der Raum in der Hertie School of Governance an der belebten Friedrichstraße in Berlin. Etwa 20 Teilnehmer sitzen an zusammengestellten Tischen im Kreis. An der Wand hängt ein mit roter Farbe vollgekritzeltes Whiteboard. Beachtet wird es von keinem. Die Blicke zieht ein Mann auf sich, von dem sich alle eine Antwort auf die zentrale Frage der Krise erhoffen: Warum geht es Deutschland wirtschaftlich so gut, während andere EU-Staaten ohne fremde Hilfe kaum mehr überlebensfähig sind? Daniel Sahl heißt der Mann, studierter Ökonom und persönlicher Referent des Hauptgeschäftsführers des Bundesverbandes Deutscher Industrie, dem Interessenverband des Wirtschaftszweigs.

„Am deutschen Wesen soll Europa genesen – das ist der falsche Ansatz“, stellt Sahl gleich zu Beginn klar. Zu vielfältig seien die wirtschaftlichen Strukturen der Mitgliedsländer, zu unterschiedlich die politischen und kulturellen Traditionen. Seine Lösung: Weniger nationales Denken im Bereich Ökonomie, sondern verstärkter Waren- und Dienstleistungsaustausch innerhalb Europas.Clusterbildung eben. Nicht: „Jeder Staat stellt alles bereit“, sondern jeder spezialisiert sich je nach Potenzial auf einen bestimmten Wirtschaftsbereich. Griechenland beispielsweise habe eine gute IT-Branche und müsse diese verstärkt ausbauen.

Deutschland zeige, dass das Modell funktioniere: Hierzulande stammt ein Drittel der gesamten Wirtschaftskraft aus dem produzierenden Gewerbe. „Es gibt kein anderes Land in Europa, das eine so starke Industrie hat“, unterstreicht Ökonom Sahl. Aufgrund dieser Spezialisierung käme die Bundesrepublik relativ gut durch die Krise.

Doch ein Systemwandel dauert. Bis es soweit ist, muss der große Tanker Deutschland viele Beiboote hinter sich herziehen. Das trifft vor allem die Jugend in anderen Staaten. Mindestens ein Dutzend ihrer europäischen Freunde seien aufgrund der Krise arbeitslos, empört sich Jasmin, stellvertretende Vorsitzende der JEF Stuttgart, bei der Diskussion mit Sahl und den anderen Teilnehmern. „Sie fragen mich immer wieder: Gibt’s keinen Job in Deutschland für mich?“ Klar sei, antwortet der Ökonom, dass das Abwerben von Fachkräften aus dem Ausland die Probleme nur in die Zukunft verlagerten. Aus diesem Grund unterstütze der BDI die Jugendlichen in ihren Ländern unter anderem mit der Förderung der dualen Ausbildung. Zu wenig, empört sich Jasmin. Da müsse wesentlich mehr von einem solch starken Verband kommen.„Das nehme ich mal mit“, verspricht Sahl. „Wir haben nämlich auch keinen Bock auf zwölf Millionen arbeitslose Jugendliche in Europa.“

Spiel mit hochexplosivem Sprengstoff im Dunklen

Eines steht für ihn fest: In Sachen Krisenbewältigung kann die Wirtschaft einiges bewegen, doch ohne Politik läuft nichts. Vernünftige Rahmenbedingungen, die jeden verpflichten, sind die Grundlage eines auf Erfolg justierten Unternehmens. Dass dies nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für Staaten gilt, zeigt die flexible Handhabung der Maastrichter Kriterien in Zusammenhang mit der Staatsverschuldung und dem Ausbruch der Wirtschaftskrise. „Demokratien neigen zum Schulden machen“, sagt André Berberich, Mitglied der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg. Er hat seine Session bei der Europawerkstatt mit dem Titel „Staatsverschuldung in der Europäischen Union“ überschrieben. Politiker könnten besser bei der Bevölkerung punkten, wenn sie neue Wohltaten verkündeten anstelle harter Sparmaßnahmen.

Aufgrund der Generationengerechtigkeit dürften die roten Zahlen aber nicht unbeschränkt fortgeschrieben werden. Außerdem ist jeder Staat umso abhängiger von der Finanzbranche, je mehr Schulden er hat. Sparen muss also sein. „Doch in Zeiten der Krise gilt das zu hinterfragen“, sagt Berberich. Am Ende verstärke eine Politik, die nur auf Austerität aus sei, die Rezession. Ein Teufelskreislauf entstehe, der immer schlimmere soziale Missstände hervorrufe. Der richtige Zeitpunkt zum Sparen, gepaart mit mutigen Strukturreformen, das sei der Königsweg. Doch beides zu finden gleiche einem Spiel mit hochexplosivem Sprengstoff im Dunklen. Bisher können selbst Ökonomen die möglichen Folgen von politischen Strukturreformen auf die Volkswirtschaft kaum absehen.

Umgehen ließe sich eine solche Situation mit der Stärkung des „Europäischen Semesters“, ist Berberich überzeugt. Dieses ermöglicht der Kommission einen Blick auf die nationalen Haushalte, noch bevor diese verabschiedet werden. Damit soll die Haushaltsdisziplin der Mitgliedsstaaten überwacht und eine leistungsfähige Wirtschaft in der EU gewährleistet werden. Das Problem: Das Budgetrecht gilt als Königsrecht der Parlamente. Die wenigsten nationalen Abgeordneten sind begeistert von einem Kommissar, der dieses aushebeln möchte, zumal die Kommissionsmitglieder nicht direkt vom europäischen Volk legitimiert sind. Berberich fordert deswegen eine stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments.

Ein Führerschein für das Internet

Eines stehe fest: Lösungen auf europäischer Ebene müssen her, keine nationalen Alleingänge. Das gilt auch bei dem durch die NSA-Affäre stark in den Fokus geratenem Thema Datenschutz im Web. Sicherheit versus Freiheit – diese Dinge gilt es gegeneinander abzuwägen, stellt Alexander Spies bei der Diskussion zu dem Thema heraus. Seit 2011 sitzt der 58-Jährige für die Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus. Für ihn steht fest, dass dem Staat eine Schutzpflicht obliegt, die den Bürger aber nicht aus seiner Eigenverantwortung entlässt. Das Problem: „Das Internet ist komplizierter als das Autofahren. Trotzdem gibt es nur für letzteres einen Führerschein“, sagt Spies. Aufklärungsarbeit sei aus diesem Grund dringend nötig.

Dieser Artikel erschien zuerst im gedruckten Treffpunkt Europa Magazin, dem Mitgliedermagazin der JEF-Deutschland, zur Europawerkstatt.

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