Neuzusammensetzung des Europäischen Plenarsaals
Es gibt mehrere Lehren aus dieser Europawahl zu ziehen. Erstens, der starke Rückgang der beiden größten politischen Familien: der Europäischen Volkspartei (klassische Rechte) und der Sozialdemokraten. Beide verlieren etwa vierzig Sitze, was ihnen nicht mehr ermöglicht, die absolute Mehrheit zu erreichen. Es ist somit das Ende einer historischen Mehrheitskoalition, die das Europäische Parlament seit 1994 dominiert hatte. Die größten Fortschritte wurden dagegen von der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (liberale Partei) und der Fraktion der Grünen erzielt, die sich zu den dritt- bzw. viertgroßen Kräften im Parlament entwickelt haben.
Die zweite Lehre aus diesen Wahlen ist die Fragmentierung des Europäischen Parlaments. Tatsächlich dominiert sowohl rechts als auch links keine Fraktion wirklich. Auf der einen Seite des Plenarsaals entwickeln sich die rechtsextremen und euroskeptischen Kräfte (+22 Sitze für das Europa der Nationen und Freiheiten, +12 Sitze für das Europa der Freiheiten und der direkten Demokratie), aber die Gruppe der europäischen Konservativen und Reformisten schrumpft (-13 Sitze). Andererseits wird die Einheitliche Europäische Linke zur kleinsten Fraktion des Parlaments mit 38 Sitzen.
Die Liberale Fraktion behauptet sich also, insbesondere dank der Ankunft der gewählten Vertreter*innen der europäischen Renaissance-Liste (La République En Marche, MoDEM, Agir), die sich den Reihen anschließen und sicherlich eine entscheidende Rolle bei der Bildung einer Koalition spielen werden. Aber die Grünen sind nicht zu überbieten und gewinnen 22 neue Sitze, mit starken Wahlleistungen in Frankreich, Deutschland, Irland und Österreich.
Eine Wahl, die durch hohe Wahlbeteiligung gekennzeichnet ist
Eine der größten Überraschungen dieser Wahlen wird sicherlich die starke Mobilisierung der europäischen Bürger*innen bleiben. Tatsächlich haben sich 2014 einige über die Wahlbeteiligung beschwert, die den niedrigsten Stand erreicht hatte, seitdem das Europäische Parlament in allgemeinen Wahlen gewählt wird (1979), nämlich 42,61%. Sie würden sich in diesem Jahr freuen, da 50,62 % der europäischen Bürger*innen zwischen dem 23. und 26. Mai an den Wahlen teilgenommen haben. Das sind 8 Prozentpunkte mehr als 2014 und die höchste Wahlbeteiligung seit 2004.
Dieser Anstieg der Beteiligung gilt in den meisten Mitgliedstaaten, und die höchsten Zunahmen verzeichneten Polen (+22 Punkte), Spanien (+20,5 Punkte) und Rumänien (+19 Punkte). Das sind zum Beispiel 5,6 Millionen mehr Wähler*innen in Polen, in einem Land mit mehr als 38 Millionen Einwohnern. Die Mobilisierung in den Mitgliedstaaten ist jedoch sehr unterschiedlich: In Belgien liegt sie bei 88,47%, während sie in der Slowakei nur 22,74% erreicht.
Da der Brexit um mehrere Monate verschoben wurde, wurden auch die Wähler*innen im Vereinigten Königreich aufgefordert, Vertreter*innen in das Europäische Parlament zu wählen. Dennoch scheint es, dass sie ohne jeglichen Enthusiasmus dorthin gegangen sind, da nur 37% von ihnen gewählt haben.
Wird das Spitzenkandidat*innen-System eingehalten?
Das für die Europawahlen 2014 eingerichtete Spitzenkandidatensystem verlangt, dass der*die Präsident*in der Europäischen Kommission aus der Fraktion kommt, die bei den Wahlen die Mehrheit der Stimmen gewonnen hat. Dies führte vor fünf Jahren zur Ernennung des ehemaligen luxemburgischen Premierministers Jean-Claude Juncker. Hauptziel war es, die Politisierung und den transnationalen Charakter der Europawahlen zu stärken und sich auf ein System hinzubewegen, das es den Bürger*innen nahezu ermöglicht, den*die Präsidenten*in der Kommission indirekt zu wählen.
Nun stellt sich die Frage, ob dieses System respektiert wird, da es in keinster Weise automatisch ist und einige Staats- und Regierungschef*innen sogar öffentlich erklärt haben, dass sie nicht daran festhalten, vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron. Es handelt sich nämlich um eine inoffizielle Praxis, die von den europäischen Parteien selbst festgelegt wurde und sich aus ihrer Auslegung von Artikel 17 des Vertrags über die Europäische Union ergibt: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder“. Das Europäische Parlament entscheidet also nicht allein, es muss zuerst mit dem Europäischen Rat verhandeln und dann die absolute Mehrheit erhalten.
Die Verhandlungen zu diesem Thema begannen sofort, und der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, kündigte am 29. Mai an, dass Manfred Weber, der Kandidat der Mehrheitsgruppe (EVP), bereits nicht mehr in Frage kommt. Die Verhandlungen werden daher im Laufe des Sommers fortgesetzt und versprechen, hart zu werden, denn auch die anderen Fraktionen des Europäischen Parlaments unterstützen die Kandidatur von Manfred Weber nicht, obwohl sie ihr Engagement für das Spitzenkandidatur-System bestätigt haben.
Mehrere Namen sind im Umlauf, darunter Michel Barnier und andere Kandidat*innen, wie die dänische und die derzeitige EU-Kommissarin für Wettbewerb, Margrethe Vestager. Am Abend des 26. Mai sagte sie der europäischen Presse im Europäischen Parlament in Brüssel, dass sie eine Kandidatin für den Vorsitz der Kommission sei und bereit sei, eine Synthese aus beiden Seiten des Plenums zu machen. Wird sie „die goldene Mitte“ sein, die die Mehrheit des Europäischen Rates und der Mitglieder des Europäischen Parlaments zusammenbringt? Die Antwort folgt im Sommer....
Auf der anderen Seite gibt es eine Neuerung - vielleicht sogar einen Fortschritt - gegenüber 2014. Während der Europäische Rat auf dem informellen Gipfel am 9. Mai 2019 mit der Debatte über die strategischen Leitlinien für den Zeitraum 2019/2024 begonnen hat, sind diese Diskussionen über das Programm für die nächsten fünf Jahre nun mit denen über den nächsten Mieter der Europäischen Kommission verknüpft. Auf dem informellen europäischen Gipfel am 27. Mai haben die Staats- und Regierungschefs dieses Programm nämlich hauptsächlich (zumindest offiziell) diskutiert, und abhängig davon müssen sie die Person finden, die am besten in der Lage scheint, es zu leiten und Koalitionen zu finden. Im Europäischen Parlament werden die Fraktionen EVP, S&D, ALDE und die Grünen in der Woche vom 10. Juni offiziell Verhandlungen über ein gemeinsames Programm aufnehmen. Ziel ist es, vor der Tagung des Europäischen Rates am 20. und 21. Juni eine Einigung über ein konkretes Dokument zu erzielen, das den Staatschefs vorgelegt werden soll.
Mögliche Koalitionen
Dies wirft die Frage auf, wie das Europäische Parlament in den nächsten fünf Jahren arbeiten wird. Tatsächlich ist die europäische Demokratie bekannt dafür, in der Kunst des Konsenses stark zu sein. Außerdem arbeitet das Europäische Parlament mit der Bildung von Koalitionen, ein notwendiger Schritt, da keine Fraktion jemals die absolute Mehrheit (376 Sitze für diese Amtszeit) allein erreicht hat. Diese Koalitionen können sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln, vor allem aber können sie je nach Themen auf der Tagesordnung und der Gruppendisziplin variieren. Aber es scheint schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine Koalition zu vermeiden, außer man möchte die Paralyse des europäischen institutionellen Systems. Da das Parlament in den meisten Zuständigkeitsbereichen der Union Mitgesetzgeber ist, ist seine Zustimmung (mit der des Ministerrates) für die Annahme von Rechtsakten unerlässlich. Mehrere Koalitionen sind daher möglich.
Sicher ist, dass die Herrschaft der zweiköpfigen Mehrheit zwischen EVP und S&D vorbei ist. Die wahrscheinlichste Koalition wäre es, EVP, S&D und ALDE in der Mitte zusammenzubringen. Diese drei Gruppen würden 438 Sitze und damit eine komfortable Mehrheit für die Leitung des Plenums erhalten. Aber die ALDE, würde eine zentrale Rolle spielen. Wenn wir die Fraktion der Grünen hinzufügen, würden wir eine „Regenbogenkoalition“ und ein sehr breites Bündnis zwischen den proeuropäischen Kräften erhalten. Die grünen Spitzenkandidat*innen Ska Keller und Bas Eickhout bekräftigten jedoch, dass sie nur dann einer Koalition beitreten würden, wenn sich deren Programm auf Klimaschutz und ein soziales Europa konzentriere. Dabei sei man sich nicht sicher, ob es in der Praxis gelingen würde, den rechten Rand der EVP zusammenzubringen.
Eine Koalition zwischen der Linken und der Mitte (von der GUE über die Grünen und die S&D zur ALDE) sowie zwischen der Rechten und den Nationalist*innen (ALDE, EVP, ECR und ELDD) scheint unmöglich, da die ideologischen Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Formationen zu groß sind. Wenn wir das Beispiel der französischen Vertreter*innen nehmen, erscheint es in der Tat unrealistisch, wenn die gewählten Vertreter*innen von France Insoumise in einem Bündnis mit denen von La République en Marche übereinstimmen, ebenso wie die des Rassemblement national zusammen mit Les Républicains. Aber die europäische Politik besteht aus Kompromissen und Verhandlungen.
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