Als Rahim aus Afghanistan floh, war er 16 Jahre alt. Er kämpfte sich durch bis in die Türkei, erarbeitete sich in Istanbul Geld, um einen Schmuggler zu bezahlen und überquerte die türkisch-bulgarische Grenze. Dort erwischten ihn die Grenzwächter, traten und schlugen ihn mit Knüppeln, nahmen ihm sein Geld ab und warfen ihn zurück über die Grenze. „Wie einen alten Lumpen“, so erzählt er Amnesty International.
Das Dublin-System fordert Menschenopfer
Dieses Einzelschicksal fügt sich nahtlos ein in die Auflistung der zahlreichen Vorwürfe, die Amnesty gegen die EU und ihre Mitgliedsstaaten in ihrem neuen Bericht „The human cost of fortress Europe“ erhebt. Intransparente Abkommen mit Drittstaaten, ungeahndete Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßige Investitionen in Überwachung und Kontrolle sind nur einige der Mängel, die der Bericht anprangert. Das Fazit: Die Festung Europa legt den Schwerpunkt ihrer Migrationspolitik auf die Abwehr von Wirtschaftsflüchtlingen. Die „bestenfalls fragwürdigen Mittel“, die zu diesem Zweck verwendet werden, „verursachen menschliches Leid und kosten Menschenleben“, heißt es in dem Bericht.
Viele dieser Vorwürfe sind nicht neu. Die europäische Asylpolitik ist voller Mängel und besteht im Kern aus dem Dublin-System (basierend auf Dublin I von 1997, gefolgt von Dublin II aus dem Jahr 2003 und Dublin III von 2013). Diese Abkommen sind zwar voll von Solidaritätsbekundungen, finden lassen diese sich aber hauptsächlich in den Präambeln. Die Gesetzesartikel zeichnen ein anderes Bild. Dreh- und Angelpunkt der „solidarischen“ Aufteilung ist ein Mechanismus, nach dem das Ersteintrittsland für den Asylbewerber zuständig ist (außer in Sonderfällen, wie zum Beispiel Familienzusammenführungen). Im Falle irregulärer Migration sind dies logischerweise meist die Länder mit einer EU-Außengrenze. Die Folge: die Marginalisierung des Flüchtlingsproblems an den Rand Europas wird zementiert.
Der Dubliner Marginalisierung folgen Externalisierung und Abschottung
Diese Tendenz ist schon lange bekannt und ihre Auswirkungen für die leidtragenden Flüchtlinge wurden vielfach angeprangert. Doch anstatt die EU-internen Ungleichheiten zu korrigieren und ein System zu schaffen, das sowohl den Mitgliedern der Staatengemeinschaft, als auch den Hilfesuchenden Gerechtigkeit zukommen lässt, wird die Schutzzone verbreitert. Der nächste Schritt heißt Externalisierung des Problems – und dann Abschottung.
Das ist an der europäischen Außenpolitik ersichtlich. In jedem Abkommen, das die Europäische Union im Zuge ihrer Nachbarschaftspolitik abschließt, sind mittlerweile Vereinbarungen zur Asylpolitik oder zum „Grenzmanagement“ zu finden. Im vergangenen Dezember war die Türkei an der Reihe. Die größte Lücke in der europäischen Abwehr konnte mit einem Rückübernahmeabkommen geschlossen werden. Konkret heißt das: die EU winkt mit einer Aufhebung der Visumspflicht. Im Gegenzug verspricht die Türkei, Flüchtlinge, die durch ihr Territorium in die EU gereist sind, wieder aufzunehmen. EU Gelder fließen zur Unterstützung in Überwachungsanlagen, die Ausbildung von Grenzschützern, und in die Errichtung von Internierungscamps. Die Ost- und Südgrenzen der Union werden mit vielen solcher Vereinbarungen gestärkt. Gute nachbarschaftliche Beziehungen unterstützen so das Kernziel der EU Migrationspolitik: den eigenen Wohlstand schützen.
Das Grundrecht auf die Beantragung von Asyl wird ausgehebelt
Die Folgen solcher Rückübernahmeabkommen sind erschreckend: kommt ein irregulärer Migrant durch oder aus einem Land, das ein solches Abkommen mit der EU oder einzelnen Mitgliedsstaaten abgeschlossen hat, kann er vereinfacht abgeschoben werden. Dies geschieht oft, ohne dass der Betroffene ausreichend Zugang zum europäischen Asylsystem hatte oder Entscheidungen rechtlich anfechten konnte. Das Grundrecht darauf, Asyl zu beantragen, ist somit teilweise ausgehebelt.
Amnesty International kritisiert auch, dass in den Drittländern oft die Grundrechte der Flüchtlinge nicht gesichert seien. Damit ist häufig unklar, ob internationale Standards wie das Prinzip des „Non-refoulement“ bei einer Rückführung eingehalten werden. Dieses Prinzip besagt, dass niemand in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit in Gefahr ist. Bei ad hoc Entscheidungen an der Grenze, die durch Rückübernahmeabkommen indirekt legitimiert werden, ist solch eine differenzierte Abschätzung selten der Fall.
Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen werden nicht verfolgt
Gerade an der südöstlichen Außengrenze der EU nehmen sogenannte „Push Backs“ zu, das Zurückdrängen von Menschen in das Land, das sie zu verlassen versuchen, oder aufs offene Meer. Die Opfer dieser Aktionen sind häufig physischer Gewalt ausgesetzt, ihnen werden teilweise Geld und Pässe abgenommen, ihre Bitte um Asyl bleibt ungehört - das berichtet Amnesty. Die Organisation klagt an, dass Verantwortliche in bisher keinem Fall zur Rechenschaft gezogen worden seien und das, obwohl es nicht nur Menschenrechtsverletzungen, sondern auch Todesopfer zu beklagen gebe.
Es scheint, als sei der Europäische „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, den die EU erschaffen will, ein Eliteclub mit brutalen Türstehern. Die Selbstgerechtigkeit, mit der sich die Union ihre wohlfeilen Ziele setzt, ist angesichts des Unrechts, das sich an ihren Grenzen abspielt, geradezu grotesk.
Modernste Technologie und EU Finanzierung helfen bei den „Push Backs“. Das EU Programm „Solidarität und Steuerung der Migrationsströme“, das Mitgliedsstaaten in ihren Aktivitäten in den Bereichen Asyl, Integration, Rückführung und Grenzüberwachung unterstützen soll, verfügte laut Amnesty zwischen 2007 und 2013 über knapp vier Millionen Euro. Fast die Hälfte davon floss in die Überwachung und Sicherung der Schengener Außengrenzen. So können irreguläre Migranten wie der 16-jährige Rahim auch im Dunkeln und schon von weitem erkannt werden – mit Nachtsichtgeräten, Bewegungsmeldern und anderen Geräten. Während in Bulgarien und Griechenland Zäune errichtet und Kameras installiert werden, fließen Millionen in das neue Überwachungssystem Eurosur, das die Kontrolle über das gesamte Mittelmeer ausweitet.
Menschenrechte müssen den Kern der europäischen Asylpolitik bilden
Amnesty International ruft die EU, ihre Mitgliedsstaaten und Frontex dazu auf, Menschenrechte endlich in den Mittelpunkt der Asylpolitik und der konkreten Aktivitäten an den Grenzen und auf dem Mittelmeer zu stellen. Dass diese Forderung umgesetzt wird, ist unwahrscheinlich. Dublin III hat keine wirklichen Verbesserungen gebracht. Bei Treffen auf höchster Ebene steht die Sorge um den eigenen Vorteil über einer menschenwürdigeren Asylpolitik.
Auch die Forderung, dass mehr legale Möglichkeiten der Migration und Asylbeantragung geschaffen werden, widerspricht den aktuellen Entwicklungen. Die Abschottung hat bewirkt, dass es kaum noch legale Wege für die meisten Flüchtlinge gib, Europa zu erreichen. Das passt in das Schema, Migrationspolitik aus hauptsächlich sicherheitspolitischer Perspektive anzugehen.
Auch auf nationaler Ebene verschärfen sich die Gesetze: In Deutschland wurden kürzlich die Balkanländer zu sicheren Drittstaaten erklärt. Somit können Asylanträge aus dieser Region leichter und schneller abgewiesen werden.
Italien rettete über 40.000 Menschen aus dem Mittelmeer
Amnesty fordert weiterhin, dass alle Mitgliedsstaaten die Rettung von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer unterstützen und Schiffsbesatzungen, die Migranten bergen, vor Strafverfolgung schützen. Seit den Katastrophen vor Lampedusa, bei der im Oktober 2013 über 400 Menschen ertranken, ist dieses Thema in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Italien zog Konsequenzen und startete die Operation „Mare Nostrum“: Flüchtlinge an Bord zu nehmen wurde von einer Straftat zum Credo. Seitdem wurden bereits über 40.000 Menschen gerettet. Slowenien hat bisher als einziges europäisches Land zu dieser Aktion beigetragen. Deswegen verlangt Italien mehr Hilfe, denn eine Operation dieses Ausmaßes kostet – laut Spiegel monatlich rund neun Millionen Euro.
Doch obwohl die EU über eine hochmoderne Überwachungsmaschinerie verfügt, ist eine Beteiligung der Union an den Rettungsmaßnahmen dem deutschen Innenminister Thomas de Maizière zufolge „unrealistisch“. Auch finanzielle Unterstützung für Italien gibt es nicht. „Es ist makaber, dass die Europäische Union Milliarden in die Abschottung steckt und keinen Cent ausgibt, um gemeinsam Flüchtlinge im Mittelmeer zu retten“ kommentiert die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Selmin Çalışkan.
Es brennt
So sieht sie aus, die „normative Macht“ Europas: nationale Regierungen, die jegliche Verantwortung von sich weisen; interne Machtkämpfe, ausgetragen auf dem Rücken Hilfsbedürftiger und eine Abschottung, die den Selbstansprüchen der EU diametral entgegensteht. Die Forderungen von Amnesty International werden wohl ungehört verhallen. Nur einem können immer alle zustimmen: dass effektive Flüchtlingspolitik auch darin besteht, die Bedingungen in den Herkunftsländern der Migranten zu verbessern. Das wird die Menschen in Syrien und in der Ukraine, im Irak und Libyen, in Afghanistan, Mali und anderen Krisenherden sicherlich beruhigen. Es brennt in der Welt, aber in Europa haben wir es wohlig warm.
1. Am 31. August 2014 um 20:37, von Daniela Knodt Als Antwort „Festung Europa“: Menschenrechte über Bord
Sehr informativer Artikel und schöne Zusammenfassung des Problems und die groteske Betonung europäischer Werte in dem Zusammenhang bin ich auch leid. Nur als kleine Ergänzung: Interessant finde ich auch die These, dass eine fehlgeleitete europäische Handels-, Fischerei- und Agrarpolitik die Flüchtlingsströme schon seit langem (mal unabhängig von Syrien und Afghanistan) „antreibt“. Hier sind etliche afrikanische Länder betroffen (typische Bsp. sind Fischer in Westafrika oder der Zusammenbruch ganzer Agrarzweige aufgrund europäischer Billigimporte, vor denen sich die Ländern nicht abschirmen dürfen, wie das etwa der Fall von Ghana beim Hühnerfleisch gezeigt hat.) In der Hinsicht geht es ja nicht nur um bloße Verweigerung von Hilfe, sondern die EU selbst schafft erst die Probleme, welche Menschen in die Migration treibt.
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