Europäische Werte

Fünfzehn Jahre europäische Werte: nur eine leere Hülle?

, von  Antoine Potor, übersetzt von Johanna Kamin

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Fünfzehn Jahre europäische Werte: nur eine leere Hülle?
Gebäude des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg überprüft die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention aller Unterzeichnerstaaten.
Foto: Flickr/GhostOfDorian/CC BY-NC-SA 2.0

Fünfzehn Jahre sind seit der Gründung des Taurillon, der französischen Ausgabe von treffpunkteuropa.de, vergangen. Das haben wir zum Anlass genommen, uns mit einigen einschneidenden Ereignissen seit der Gründung unseres Magazins zu befassen. Was die Frage nach den europäischen Werten angeht, war dieser Zeitraum gespickt von lehrreichen Momenten, die oft nur wenig Mut darüber machen, wie die Europäische Union ihre fundamentalen Werte schützt.

In den letzten Wochen ist die EU besonders durch ihr Schweigen zu der Situation in Hong-Kong aufgefallen, und beweist auch seit mehreren Jahren ihre Ohnmacht bezüglich der Angriffe auf den Rechtsstaat in Ungarn und Spanien. Auf der anderen Seite hat die Union im Laufe der letzten 15 Jahre den Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) gestärkt, der die Sanktionierung einer Abkehr von den europäischen Werten vorsieht. Sie hat sogar der Menschenrechtscharta denselben Rang zugewiesen wie den Gründungsverträgen der Union (Art. 6 EUV).

Bevor wir uns der Frage nach der Effektivität der europäischen Werte zuwenden, müssen wir zuerst verstehen, um welche Werte es sich genau handelt. Formal erscheinen sie sehr früh in den europäischen Verträgen: bereits in der Präambel [EUV] werden Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte erwähnt. Die entscheidende Erwähnung finden wir in Artikel 2, wo diese Werte als Grundlage der Europäischen Union und als „allen Mitgliedstaaten […] gemeinsam“ beschrieben werden. In Artikel 3 wird unterstrichen, dass die Union diese Prinzipien auf der internationalen Bühne „fördert“, formuliert wird dies als Ziel. Mit Artikel 6 räumt die Union den fundamentalen Rechten der Grundrechtecharta denselben Rang ein, wie dem Vertragswerk. Darüber hinaus beschreibt die EU in diesem Artikel die Rechte, die innerhalb des Europarates durch die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleistet werden, als allgemeine Rechtsgrundsätze der Union.

Angesichts dieser Bestimmungen zu Anfang des EUV, die zum Großteil 2007 durch die Vertragsrevisionen von Lissabon gestärkt worden sind, scheint es, dass diese Werte die Basis dessen bilden, was die Europäische Union hätte werden können oder sollen: eine echte politische Union. Dies wird an dieser Stelle bewusst als Annahme formuliert: tatsächlich haben sich diese europäischen Werte in den letzten 15 Jahren vielmehr als Dekoration erwiesen, als eine realistische Basis einer politischen Verfestigung der Union.

Unfähigkeit sich auf der internationalen Bühne durchzusetzen

Die aktuelle Lage in Hong-Kong und die fehlende Reaktion seitens der europäischen Institutionen und insbesondere seitens des Hohen Vertreters, Josep Borell, zeigen die Diskrepanz zwischen der Realität und dem Willen, die europäischen Werte zu fördern. Anstelle einer Förderung handelt es sich vielmehr um eine Verteidigung europäischer Werte. Das jüngste Gesetz über die nationale Sicherheit, das China durchgesetzt hat und das monatelange Proteste provozierte, stellt einen fundamentalen Angriff auf die Werte dar, denen sich die Europäische Union verschreibt.

So wie die Union konstruiert ist, ist sie mit Sicherheit kein Schwergewicht auf der internationalen Bühne, obwohl sie die Möglichkeiten dazu hätte. Aber das ist keine Entschuldigung. Die Union ist zwar keine echte politische Union, die mit einer Stimme spricht, sondern eine Union, die durch wirtschaftliche Interessen zusammengehalten wird. Daher verfügt sie über zahlreiche Hebel, die sie einsetzen könnte, um Rechtsverletzungen zu sanktionieren, die sich gegen die europäischen Werte richten. Darüber hinaus bestehen weitere Möglichkeiten die chinesische Politik zu sanktionieren, wie zum Beispiel durch eine Einschränkung der Visa-Vergabeverfahren, wie es zum Beispiel Australien gemacht hat. Erst kürzlich ist in Vorbereitung auf eine schrittweise Wiederöffnung des Schengen-Raumes nach der Schließung aufgrund der Corona-Pandemie eine Liste der Länder veröffentlicht worden, aus denen Reisende wieder einreisen dürfen sollen. Auf dieser Liste steht – unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit – auch China. Angesichts der dortigen Lage und der chinesischen Machenschaften wäre es durchaus zweckdienlich gewesen, das Land dort nicht aufzuführen.

Die EU leidet darüber hinaus aber auch seit 15 Jahren an einer Art diplomatischen Apathie. Es reicht bereits, sich an die Migrationskrise zurückzuerinnern, die ihren traurigen Höhepunkt im Jahr 2015 hatte. Die europäischen Staaten haben sich in Verteilungsfragen verrannt, obwohl es sich auch heute noch um echte Menschenleben handelt. Bedeutet dies, dass die europäischen Werte an den Grenzen der Union ihre Gültigkeit verlieren?

Der gescheiterte Beitritt zur EMRK

Die Europäische Union und ihr Aufbau beruhen zu einem Großteil auf einem rechtlichen Fundament. Als die Römischen Verträge 1957 unterschrieben worden sind, lag die Idee von europäischen Werten noch in weiter Ferne. Ihren Ursprung hatte diese Idee in einigen Urteilen nationaler Gerichtshöfe, die einen Vorrang des Unionsrechtes nur gewährleisten wollten, wenn dieses auch einen gleichwertigen Grundrechteschutz gewährleistet (insbesondere seit den 70er Jahren und dem EuGH-Urteil Internationale Handelsgesellschaft von 1970).

Seit 15 Jahren kommt dieser „Druck“ eher vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg. Es ist wenig bekannt, dass der Gerichtshof für Menschenrechte die EU und insbesondere den Europäischen Gerichtshof (EuGH) dazu gedrängt hat, den Schutz der Menschenrechte, den sich die Union selbst als Werte auf die Fahnen schreibt, zu stärken. Diese Aufwertung der Standards zeigt sich erstmals in der Europäischen Menschenrechtscharta von 2000, die 2007 durch die Vertragsrevisionen von Lissabon eine Aufwertung erfahren hat und seitdem als juristisch mit den Verträgen gleichranging gilt. Diese Neuerung sieht formal auch den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vor. Dies beweist zwar einen guten Willen, der eigentliche Beitrittsprozess hat sich aber als Niederlage erwiesen. Es lag nicht einmal an den Verhandlungen, die insgesamt drei Jahre dauerten und während derer die Verflechtung der beiden Rechtsordnungen geregelt werden sollte. Am Ende war es der EuGH, obwohl dieser stark an den vorangegangenen Diskussionen beteiligt war, der dem Beitritt einen Riegel vorschob (Gutachten 2/13, 18. Dezember 2014). Der Gerichtshof in Luxemburg hat zudem die Möglichkeit zurückgewiesen, dass der EGMR sich zu Themen äußert, über welche nur die Unionsrichter*innen urteilen dürften. Für die Anwendung von Unionsrecht sieht sich der EuGH allein zuständig.

Diese Niederlange ist allerdings insofern zu relativieren, als dass sich die beiden Gerichtshöfe bereits lange vor den Verhandlungen und deren Scheitern im Jahr 2014 über den Schutz der Menschenrechte, wie sie durch die EMRK gewährleistet werden, geeinigt haben. Die Unionsrichter*innen haben eine Art Übereinstimmung mit den Normen des Europarates festgestellt und damit einen Status quo kreiert.

Ein Rechtsstaat – zwei Gewichte – zwei Maßeinheiten

Die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit hat wahrscheinlich über die letzten Jahre mit am meisten Diskussionen ausgelöst. Besonders ausdrücklich zeigt sie, wie wenig die EU imstande ist, ihre eigenen Werte in den eigenen Reihen durchzusetzen. Obwohl die Rechtstaatlichkeit eine Bedingung sine qua non für den Beitritt in die EU ist (der berühmte acquis communautaire), scheint es möglich zu sein, sich vollkommen straffrei von ihr abzuwenden, sobald der Beitritt einmal vollzogen ist.

Die Kommission verfügt zu dieser Frage über ein ganzes Arsenal an juristischen Mitteln auf Grundlage von Artikel 7 EUV. Trotzdem bleiben ihr die Hände gebunden. In der Praxis fußt dieses Verfahren auf dem Prinzip der Einstimmigkeit, welches sich durch alle Bereiche zieht, die von der EU abgedeckt werden. Aufgrund dieser Zwickmühle hat die Kommission Juncker 2014 ein Verfahren ins Leben gerufen, dass noch vor dem Artikel 7 Verfahren stattfindet und somit diese Einstimmigkeit umgeht. Ziel dieses Verfahrens ist es, zunächst den Dialog zu suchen und vermehrt Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH anzustreben, um dort die Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit feststellen zu lassen.

Diese beiden parallelen Wege hin zur „nuklearen Option“ (Artikel 7), müssen angesichts von Befangenheiten relativiert werden. Es lassen sich drei Situationen voneinander unterscheiden: die Fälle Polen, Ungarn und Spanien. Die ersten beiden Fälle haben miteinander gemein, dass ihre Verfehlungen mit Bezug auf den Rechtsstaat von quasi allen anderen Mitgliedsstaaten verurteilt werden. Der Unterschied liegt in den Konsequenzen. Tatsächlich musste sich Ungarn unter Viktor Orbán bisher nicht von der Kommission bedroht fühlen, da diese den EuGH bisher nicht angerufen hat. Nur das Europaparlament hat sich bisher für diese Fragen interessiert, ist aber an Artikel 7 gescheitert (man muss allerdings anerkennen, dass die Kommission vor Kurzem die Angriffe auf den Rechtsstaat in Ungarn im Verlaufe der Pandemie öffentlich verurteilt hat). Ganz anders stellt es sich der Fall Polen dar, das aufgrund seiner Justizreformen auf Initiative der Kommission schon mehrfach durch den EuGH verurteil worden ist. Der Unterschied zwischen den beiden Fällen ist politischer Natur. Die Partei von Viktor Orbán ist trotz ihrer Suspendierung Mitglied in der Europäischen Volkspartei (EVP), was ihr eine gewisse Immunität verleiht, von der die Regierungspartei in Polen (PiS) nicht profitiert.

Ein weiterer Unterschied liegt in dem Graben, der sich zwischen den südlichen und östlichen Mitgliedsstaaten gebildet hat, was den Rechtstaat angeht: die Situation in Spanien. Tatsächlich hat sich die spanische Regierung seit dem Referendum in Katalonien und der Inhaftierung eines spanischen Europaabgeordneten nicht besser verhalten als Ungarn oder Polen, was die fundamentalen Werte angeht. Trotzdem haben es weder die Mitgliedsstaaten oder die Kommission noch das Parlament gewagt, diesen Umstand zu verurteilen. Schlimmer noch, das Parlament hat sich, trotz des Vorstoßes gegen Ungarn, angesichts eines Verfahrens vor dem EuGH hinter Spanien gestellt.

Diese drei unterschiedlichen Fälle bringen uns zu folgendem Schluss: Schauen wir gerade dabei zu, wie seit 15 Jahren zwei unterschiedliche Modelle europäischer Werte entstehen? Das Problem in fundamental. Wenn die Europäische Union unfähig ist, die Effektivität ihrer eigenen Werte in ihren eigenen Reihen zu gewährleisten, dann ist es eine logische Schlussfolgerung, dass sie unfähig ist, diese auch in anderen Ländern zu „fördern“. Am Ende muss nach den vergangenen 15 Jahren ein recht negatives Fazit gezogen werden. Die europäischen Werte scheinen heute nicht viel mehr zu sein als eine leere Hülle.

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