Für mehr Komplexität in der Beziehung zwischen Europa und Afrika

, von  Lilith Diringer

Für mehr Komplexität in der Beziehung zwischen Europa und Afrika
Die EU hat innerhalb der vergangenen Jahrzehnte zwar teilweise große Erfolge in ihrer Afrikapolitik zu verzeichnen, so in der Bekämpfung extremer Armut. Zeitgleich ist zu einer nachhaltigen Partnerschaft auf Augenhöhe mit Afrika noch ein weiter Weg. Foto: Unsplash / Maksim Shutov / Unsplash Lizenz

Die Beziehungen zwischen Afrika und Europa reichen weit zurück und sind seit über 500 Jahren dokumentiert. Was steckt wirklich hinter den einseitigen Bildern, die uns im Geschichtsunterricht und Werbespots von Spendenaktionen vermittelt werden? Wie sieht eine fruchtbare Partnerschaft der Zukunft aus? Ein Gastbeitrag.

Aminata Titamba erkenne ich bereits aus einigen Metern Entfernung. Ich habe sie auf einem der Fotos gesehen, die in Ladenburg an der Pinnwand des Vereinsraums hängen. Der kleine Verein in der baden-württembergischen Stadt am Neckar unterstützt seit 1983 die Partnerstadt Garango im Südosten des zentralafrikanischen Landes Burkina-Faso. Aminata Titamba ist eines der Patenkinder, deren Schulbildung durch die Spenden unterstützt wird. Sie läuft selbstbewusst auf mich zu. Ich gehöre zu der Gruppe angekündigter deutschen Gruppe, die das Dorf mit dem Bau eines Brunnens und der Erneuerung des Schuldachs nach einem heftigen Sturm unterstützten. Als Übersetzerin helfe ich der Delegation und werde anschließend selbstständig einen Monat im Land bleiben und die Projekte vor Ort begleiten. Ich überreiche Aminata Titamba als Geschenk einen Stift – neben einer Geste hoffentlich auch etwas Nützliches. Gerade in der Verbesserung der Bildung sieht der Verein ein großes Entwicklungspotential.

Nach der Versammlung steht ein Treffen mit Loreine Maes an. Die Belgierin arbeitete früher für eine NGO, die ebenfalls den Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie Schulunterricht förderte. Seit nun dreißig Jahren lebt sie selbst in Burkina Faso. „Es gibt noch viel mehr Vereine, die hier aktiv sind. Aus der Schweiz kommt ebenfalls immer wieder einmal eine Delegation an“. Dass Loreine Maes NGO nicht die einzige private Initiative vor Ort ist, wird mir in den nächsten Tagen noch öfter klar: Kaum eine Woche später sitze ich in dem Kleinbus von drei Italiener*innen, die ein Start-Up zur Tomatenmark- und Seifenproduktion in der Region fördern.

Warum so viele Gelder aus Privathänden fließen, möchte ich wissen. Weil die EU-Staaten selbst zu wenig geben, so Loreine Maes Antwort. Die 75-Jährige hat in den vergangenen Jahrzehnten ihres Engagements bereits viel erlebt.

Eine Geschichte, die erzählt werden muss

Im Geschichtsunterricht an deutschen Bildungseinrichtungen lernen die Schüler*innen in Sachen Afrika vor allem über die Punkte in der Historie etwas, in denen sich die „westliche Welt“ in Länder des afrikanischen Kontinents einmischte. Doch auch dies lediglich aus wenigen eingeschränkten Perspektiven. Sklavenhandel, Kolonialismus – davon abgesehen gilt Afrika beinahe als geschichtsloser Kontinent. Dabei reichen die europäisch-afrikanischen Beziehungen weit zurück: laut Quellenbelegen mindestens 500 Jahre. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts bestanden noch Handelsbeziehungen zwischen Frankreich, Portugal und einigen afrikanischen Königtümern wie dem Kongo.

Jahrhunderte ohne nachweisliche direkte Kontakte folgten. Es gibt zwar Chronologien über die Großreiche Gana (nicht zu verwechseln mit dem heutigen Staat Ghana), Mali, das Köngreich Songhay und Nachweise von beeindruckenden Steinkonstruktionen aus Simbabwe. Dennoch ist unser Wissen lückenhaft. Fehlende Schriftstücke führten zu einer durch antike, arabische und westliche Quellen geprägten, verzerrten Wahrnehmung Afrikas in großen Teilen Europas und Nordamerikas. Vorurteile und Mythen konnten sich dadurch festigen und dazu beitragen, dass der gesamte afrikanische als rückschrittlich betrachtet wurde.

Während sich im deutschen Schulunterricht daher einzig die Perspektive der Kolonialmächte wiederfindet, werden andere Meinungen in Bezug auf die Verbrechen der nachfolgenden Jahrhunderte selten erwähnt. Der Sklav*innenhandel und -einsatz wurde gerechtfertigt, indem die verschleppten Arbeitskräfte als Angehörige einer minderwertigen „Rasse“ beworben wurde. Auch die Legitimität der Enteignung im Zuge der Kolonialisierung wurde aus dieser entwürdigenden Darstellung geschlussfolgert. Jahrelange Ausbeutung war die Folge, deren Konsequenzen bis heute nachwirken. Und während die Imperialmächte profitierten, ging es den Einwohner*innen der eigentlich an Bodenschätzen äußerst reichen Länder zunehmend schlechter.

1960: 17 afrikanische Länder erlangen ihre Unabhängigkeit – Was hat sich seitdem getan?

Nach der Kolonialzeit haben die afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangt. Mit Exporten von Billigware nach Afrika und Importen wertvoller Rohstoffe in den Westen haben die Industriemächte jedoch immer noch einen großen Einfluss. Im postkolonialen Diskurs wird daher von einer lediglich formalen Unabhängigkeit gesprochen. Es werde nach wie vor zu viel eingegriffen und Afrika damit die eigene Entwicklungsfähigkeit abgesprochen, kritisieren viele Wissenschaftler*innen und Politiker*innen, die der Meinung sind, den afrikanischen Ländern solle mehr zugetraut werden. Hilfe auf der einen und Unterdrückung auf der anderen Seite lassen nach wie vor den Eindruck eines paradoxen Verhaltens nicht verschwinden. In den letzten 50 Jahren hat Europa viele Chancen verpasst, um in eine neue und nachhaltige Partnerschaft auf Augenhöhe mit Afrika zu investieren. Stattdessen wurden berechtigte Vorwürfe laut, Europa habe versucht, anderen ohne langfristigen Plan fremde Konzepte überzustülpen. Wundern sollten sich die Mächte folglich nicht über die hohe Anzahl an Kriegen und Hungersnöten vor Ort. Eine unfähige Verwaltung, eine fehlende Sozialpolitik, Korruption, auch unsinnige Grenzziehungen – alles nimmt seinen Ursprung in den Kolonialstaaten. Hinzu kommt, dass viele der von Armut betroffenen Staaten in Afrika besonders anfällig gegenüber Folgen des Klimawandels sind, deren Hauptverursacher stellen Industrienationen dar, nicht zuletzt die europäischen Staaten. In der jüngeren Geschichte erleben wir unter anderem dadurch eine deutlich stärkere Zuwanderung der afrikanischen Bevölkerung nach Europa.

Dabei steckt so viel Potential in diesem Kontinent. Würde dieses ausgeschöpft, würden die Lebensbedingungen in einem Maße verbessert werden, dass es keinen Grund zur Flucht mehr gäbe. Von den in Subsahara-Afrika lebenden 1,1 Milliarden Menschen ist die Hälfte jünger als 25 Jahre, 12,2 Millionen junge Einwohner*innen sind arbeitslos. Ganz zu schweigen von der großen Zahl an Personen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen einem Beruf nachgehen. Allein die Zahl an Jugendlichen wird Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2050 auf 1 Milliarde gestiegen sein. Das Ziel Europas sollte es daher in erster Linie sein, diesen Menschen ein Leben voller Chancen in ihren jeweiligen Heimatländern zu ermöglichen.

Was zählt? Die Menge und die Flussrichtung des Geldes

Aus der EU und dessen Mitgliedstaaten fließt Geld in Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Im EU-Siebenjahresbudget, dem sogenannten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), fallen diese Ausgaben größtenteils unter das Kapitel 6: Nachbarschaft und die Welt. Gerade zum aktuellen Zeitpunkt, in dem der MFR für 2021-2027 diskutiert wird, ist es entscheidend, hier stark in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Eigentlich sollten 140 Milliarden, durch die jüngsten Entwicklungen aber zumindest die von der EU-Kommission anvisierten 118 Milliarden für das Kapitel 6 bereitgehalten werden. Europa sollte sich dabei nicht als Helfer oder Retter Afrikas inszenieren, sondern sinnvolle Projekte fördern, die zu einem langfristigen Aufbau eines stabilen Afrikas beitragen.

Dies ist nichts Neues. Der Europäische Rat kann nicht ernsthaft davon ausgehen, dass die EU ihre Verpflichtungen in punkto Armutsbekämpfung und Gleichberechtigung bis 2030 einhalten kann, wenn er jetzt EU-Entwicklungsmittel kürzt“, äußert sich Stephan Exo-Kreischer, der Deutschlanddirektor der Entwicklungsorganisation ONE dazu. „Angela Merkel, die regelmäßig von einer Partnerschaft auf Augenhöhe mit Afrika spricht, sollte auch auf europäischer Ebene zu ihrem Wort stehen. Sie muss dafür sorgen, dass […] allen Mitgliedstaaten klar ist, dass es ein starkes Europa nur mit einem starken Afrika geben kann.“ Die Arbeit der EU hat innerhalb der vergangenen Jahrzehnte große Erfolge zu verzeichnen, wie z.B. die Statistiken zu extremer Armut verdeutlichen: Die Zahl der Menschen, die mit weniger als 1,90 US-Dollar am Tag leben müssen, ist seit 1990 bis 2018 von 35% auf 10,7% der Weltbevölkerung gesunken. Der Fokus bei all diesen Projekten sollte darauf liegen, Probleme gemeinsam zu bewältigen.

Diese Ansicht teilt auch der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller: „Viel zu lange hat Europa den afrikanischen Kontinent mit ausgebeutet. Wir Europäer haben wertvolle Ressourcen zu Niedrigstpreisen bekommen und den Arbeitskräften Sklavenlöhne gezahlt. Auch auf dieser Ausbeutung gründen wir in Europa unseren Wohlstand.“ Aus dieser Verantwortung wird derzeit kein konsequentes Handeln gefolgert, unter anderem durch den immer noch nicht ausgemerzten Wissensmangel und die einseitige Perspektive auf die vergangenen Jahrhunderte. In der Haushaltsplanung Deutschlands bis 2024 vor den Anpassungen durch die Entwicklungen der Corona-Pandemie wird deutlich, dass Deutschland seine Ziele wieder verfehlen wird. Wichtig ist jedoch nicht nur die Quantität. Worin das Geld investiert wird, spielt eine mindestens genauso entscheidende Rolle: ONE fordert hierbei eine Investition von 50% der Finanzen in die am wenigsten entwickelten Länder, die sogenannten LDCs (Least Developed Countries). 33 von insgesamt 47 Staaten liegen in Afrika.

Europas komplexer Verantwortung gerecht werden

Um die Aussage von Gerd Müller („Europa muss eine humanitäre Großmacht sein“) mit Leben zu füllen, muss sich konsequenterweise noch viel in den einzelnen Mitgliedsstaaten sowie im gesamten Konzept der EU verändern. Entscheidend wird in diesem Prozess sein, Afrika nicht auf seine Beziehung zu Europa und dessen Nutzen daraus zu reduzieren, sondern als Kontinent mit eigenen Werten und Qualitäten anzuerkennen. Die Komplexität Europas Verantwortung für eine Vielzahl an Problemen anzuerkennen und diese Lehren in die Entwicklungszusammenarbeit einfließen zu lassen, wäre hier ein erster Schritt.

Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich eine Aminata Titamba, die nach ihrem erfolgreichen Schulabschluss eine eigene Seifenfabrik aufgebaut hat. Sie organisiert die Produktion in einer Gruppe mit Kolleginnen, experimentiert mit Düften und Aromen und verdient durch den Verkauf so viel, dass sie ihren Kindern eine gute Schulbildung bieten kann. Aus eigener Willensstärke nutzt sie das Potential von sich selbst und ihrem gesamten Land.

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