Am 22. Oktober veröffentlichte das ZDF Magazin Royale einen neuen investigativen Beitrag. Das Video mit dem Titel ,,Wenn Geflüchtete zu Gefangenen werden“ behandelt ein Thema, das die Politik in Europa schon seit mehreren Jahren begleitet. Und trotz der verstrichenen Zeit wurde es versäumt, eine angemessene Lösung zu finden. Jan Böhmermann spricht das Problem von Moria an. In der Vergangenheit hieß es noch, Moria dürfe sich nicht wiederholen, frei nach dem Motto „No more Morias“. Doch diesem Grundsatz kann die EU wohl nicht verfolgen, so der Vorwurf Böhmermanns. Denn in dem neuen Geflüchtetenlager auf Samos geht es ähnlich gravierend zu und dabei ist keine Besserung in Sicht. Man sieht offen, wie die EU ihr ihren letzten Funken an Glaubwürdigkeit verliert.
Menschenwürde nur auf Abruf
Griechenland, die Lage der Geflüchteten in der Ägäis, das Händeringen der Seenotrettung mit Regierungen, die sie nicht an Land anlegen lassen; das alles sind Probleme, die sehr weit weg erschienen. Doch seit dem vergangenen Sommer bahnt sich eine neue Notlage an, diesmal unmittelbarer in der Nähe Deutschlands. Die Rede ist von der Grenze zwischen Belarus und Polen, von einem Präsidenten, der Migrant*innen gezielt als Druckmittel einsetzt, und einer EU, die sich nicht mehr zu helfen weiß. Im November strandeten viele Geflüchtete in Polen und sind auf sich alleine gestellt.
Die Situation der Geflüchteten an der polnisch-belarusisch Grenze entspannt sich nicht. Es handelt sich um Menschen, die nach ersten Vermutungen gezielt nach Belarus eingeflogen werden, um dann in einem zweiten Schritt nach Polen gebracht zu werden. Die Annahme liegt nahe, dass Lukaschenko, der Präsident von Belarus, diese Menschen als Rache für die von der EU verhängten Sanktionen benutzt. Hierbei hat er einen wunden Punkt der EU erreicht: Wie können wir menschenwürdig mit Geflüchteten umgehen? Die EU tut sich schwer damit an einem Strang zu ziehen und sich auf eine einheitliche Flüchtlingspolitik zu einigen - trotz aller Appelle und Mahnungen. Das Geflüchtetenlager auf Moria wurde erst nach einem Brand im Sommer evakuiert, nur um die Geflüchtete wieder in ähnlichen Verhältnissen unterzubringen.
Polen steht in dieser Debatte natürlich besonders im Fokus. Am 26. Oktober 2021 beschloss die Regierung den Ausnahmezustand im Grenzgebiet. Es ist auch die Rede von einer Mauer, die an der Grenze zu Belarus errichtet werden soll. Währenddessen hat die polnische Regierung unter dem Minister für Inneres und Verwaltung Mariusz Kaminski an der Außengrenze den Ausnahmezustand verhängt. Der Grenzschutz geht hart gegen Medien vor, die unabhängig berichten wollen und man darf sich der Grenze nicht nähern.
Die belarussische Ausbeutung der Flüchtlinge als Figuren in einem politischen Spiel, sowie die polnische Reaktion, welche in klarem Kontrast mit den Menschenrechts Fundamenten der EU steht, ergeben eine komplizierte Gesamtlage. Es stellt sich deswegen die Frage, wie man den Geflüchteten in Polen helfen kann und gleichzeitig verhindert, dass Lukaschenko die Menschen als Druckmittel einsetzt.
,,Eine Situation wie 2015 darf sich nicht wiederholen“
Im Mai dieses Jahres hat Lukaschenko angekündigt, Migrant*innen bei ihrer Weiterreise in die EU nicht zu behindern. Das Resultat: Mehr als 20.000 Migrant*innen haben bis Oktober versucht, die polnisch-belarusische Grenze zu überqueren, um so ins EU-Gebiet zu kommen. Es spielen sich dramatisch Szenen ab, den Migrant*innen fehlt es an allem. Die Gruppen sind unterkühlt, hungrig und brauchen dringend medizinische Versorgung.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Migrant*innen oftmals nicht am polnischen Grenzschutz vorbeikommen. Die Geflüchteten stranden regelrecht in Polen und kommen nicht weiter, wobei Deutschland ihr eigentliches Ziel ist. Seit Anfang Oktober verzeichnet die Bundespolizei rund 3750 illegale Grenzübertritte von Polen nach Brandenburg. Sieht man hier eine neue Fluchtroute?
Die Lage macht auch keinen Halt vor deutschen Politikern. Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen, spricht sich für eine EU-weite Aufnahme der Geflüchteten in Polen aus. Man müsse zudem humanitäre Standards einhalten. Deutlichere Worte findet er zu Lukaschenko: Er bezeichnet den belarussischen Präsidenten als Schleuser, dem Menschenleben egal seien. Ähnlich formuliert es Merkel, die beschreibt, dass Lukaschenko einen Menschenhandel betreibe. Hier entwickelt sich nicht nur eine neue Fluchtroute, sondern auch gleich eine neue Krise. Habeck plädiert für eine gesamteuropäische Lösung, die angesichts der Lage die einzige Alternative ist, wenn wir die Lehren aus der Vergangenheit gleichermaßen umsetzen wollen.
Doch gleichzeitig steht die EU vor einem moralischen Dilemma. Wenn wir die Geflüchteten, die aus Belarus kommen, verteilen, laufen wir Gefahr, Lukaschenko zu bestätigen. Frei nach dem Motto: Wir geben ihm das Signal, dass er weiterhin gezielt Migrant*innen einfliegen und nach Polen schicken kann, weil wir immer wieder an Stelle sind, um sie aufzunehmen und zu verteilen.
Was treibt Lukaschenko an?
Lukaschenko hat bei den Geflüchteten einen Schwachpunkt der EU erkannt und nutzt diesen gnadenlos aus. Für den belarussischen Präsidenten ist es ein leichtes, den Geflüchteten eine ungehinderte Weiterreise zu ermöglichen. Er verheimlicht nicht, dass er Migrant*innen als Druckmittel einsetzt, weil die EU wiederum Sanktionen gegen sein Land verhängt hat. Bereits im August drohte Lukaschenko der EU mit Gegenmaßnahmen, wenn diese die Sanktionen weiter fortsetzen würden. Er sehe sich hierbei zum Handeln gezwungen. Es geht ihm um die politische Anerkennung als Handelspartner. Bei der Wahl 2020 sind tausende Belaruss*innen auf die Straße gegangen, um zu protestieren, sie vermuten eine Manipulation bei der Wahl.
Die Bilder des vergangenen Jahres gingen um die Welt, als tausende auf die Straßen gingen und einen Rücktritt Lukaschenkos forderten. Dieser reagierte mit Härte und versuchte, die oppositionellen Stimmen im Land zu ersticken. Wiederholt verteidigt er seine Wiederwahl in dem er behauptet es hätte keine Versuche gegeben, die Wahl zu stören trotz gegensätzlicher Aussagen der Opposition und der stark geschwächten, belarussischen Zivilgesellschaft
Die Rolle der europäischen Grenzschutzagentur Frontex
Angesichts dieser angespannten Lage kommt Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, ins Spiel. Diese wurde 2004 gegründet und soll die EU-Mitgliedsstaaten bei der Kontrolle und Überwachung ihrer Grenzen unterstützen. Mit der Gründung wollte man eine Harmonisierung von Grenz-, Asyl- und Migrationspolitik erreichen. Die Verbesserung des Grenzschutzes stand besonders im Fokus. Die Aufgabenfelder der Agentur entwickelten sich stetig weiter. Als Reaktion auf die Flüchtlingskrise 2015 waren nun sowohl die EU als auch ihre einzelnen Mitgliedsstaaten mit der Kontrolle und Überwachung dieser Grenzen beauftragt.
Frontex hingegen stand in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik. Im Sommer berichtete die SZ, dass Frontex im Fokus steht, illegale Pushbacks von Migrantenbooten in der griechischen Ägäis durchgeführt zu haben. Der ehemalige deutsche Innenminister Horst Seehofer forderte die Wiedereinführung von temporären Binnengrenzkontrollen, um die Situation in den Griff zu kriegen. Zudem meinte er, es sei gut, wenn Polen Hilfe von Frontex bekäme.
Die Erpressbarkeit der EU - und was wir dagegen tun können
Fakt ist, dass sich die EU wieder auf ihre Werte besinnen muss. Darüber zu reden, dass Geflüchteten besser geholfen werden müsse ist eine Sache, aber dies umzusetzen ist eine andere. Die Lage an Polens Grenze muss als Warnruf verstanden werden und dieses Mal sind gezielte Maßnahmen notwendig.
Allerdings gilt zuerst die Frage, wie sich die EU weniger erpressbar machen kann. Die Mitgliedsstaaten müssen signalisieren, dass sie sich nicht als Geiseln behandeln lassen, sondern durchaus in der Lage sind, mit Lukaschenko zu verhandeln, wenn es nötig ist. Es braucht deswegen eine gesamteuropäische Strategie. Allen muss gezielt geholfen werden. Ob aber ein erweiterter Grenzschutz behilflich ist, bleibt fraglich. Denn es ist nicht auszuschließen, dass Frontex seine Machtbefugnisse weiterhin missbraucht und nicht rechtens handelt.
Dennoch muss die EU Lukaschenko und seinem Machtapparat trotzen. Man muss signalisieren, dass Menschenhandel bestraft wird. Zudem wäre es sinnvoll, Polen bei der Unterbringung und Verpflegung der Geflüchteten zu unterstützen. Nebstdem steht Polen in der Pflicht, ein menschenwürdiges Umfeld zu schaffen und wieder auf EU-Standards zu setzen. Nur so kann man dem Satz „No more Morias“ Glauben schenken.
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