Liebes Tschechien,
heute ist es 100 Jahre her, dass Deine Ahnin, die Tschechoslowakische Republik, ausgerufen wurde. Obwohl Du Dich am 1. Januar 1993 von Deiner Schwester, der Slowakei, verabschiedet hast und man Dich eigentlich erst seit diesem Tag in Deiner heutigen Gestalt in den Atlanten findet, feiert man Deinen Geburtstag am 28. Oktober 1918.
An diesem Tag wurde der moderne Nationalstaat der Tschech*innen und Slowak*innen geboren. Noch heute gedenkt man der tschechoslowakischen Legionäre, die auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges in Frankreich, Italien und Russland für die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei an der Seite der Entente gegen Österreich-Ungarn und das Deutsche Kaiserreich gekämpft haben. Die Gründung der Tschechoslowakei war ein wichtiger Schritt für die Ausbildung des nationalen Selbstbewusstseins und der neuen kollektiven Identität.
Wahrscheinlich ist dies abgesehen von der Befreiung im Mai 1945 und der Samtenen Revolution 1989 eines der wenigen wichtigen Ereignisse, an die sich Deine Bewohner*innen mit Freude erinnern. Das Münchner Abkommen und die damit verbundene Abtretung des Sudetenlandes im Jahre 1938, der kommunistische Februarumsturz 1948 und das Ende des Prager Frühlings mit den Panzern des Warschauer Pakts 1968 stellen weitere Jubiläen mit einer „8“ am Ende dar, die man jedoch lieber verdrängen würde. Sie sind stumme Zeugen der Tatsache, dass Du und Deine Ahnin größeren Mächten zum Opfer gefallen seid. Heutzutage sind einige der Meinung, dass die EU ebenfalls eine solche Gefährdung darstellt.
„Wir überleben auch Brüssel!“
Das Opfergefühl Deiner Bürger*innen mischt sich derzeit mit Gleichgültigkeit und Politikverdrossenheit. Über Deine Geschichte zu sprechen, steht allzeit hoch im Kurs. Jedes Schulkind kennt Deine Könige und die ältesten Sagen und Legenden, die Dich anpreisen. Wenn man aber eine*n Passante*in auf der Straße fragen würde, was er*sie von dem aktuellen Geschehen hält, nähme dieses Gespräch wahrscheinlich nach spätestens drei Minuten mit einem energischen Wink und den Worten „Ist jetzt halt so, da kann man nichts machen. Früher wäre so etwas aber nie passiert.“ ein Ende. Mit dem „früher“ meint man nicht nur die Zeit nach 1918, sondern vor allem die Zeit der sozialistischen Republik vor 1989. Wenn ich mal bei Dir zu Hause bin und mich mit Freund*innen treffe, bin ich oft schockiert, dass ich auch von ihnen so eine Antwort zu hören bekomme, wenn auch ohne die nostalgische Klausel.
„Wir haben Österreich-Ungarn überlebt, wir überleben auch Brüssel.“ Solche Kommentare kann man zwischen Biergläsern und eingelegten Würstchen in Deinen Kneipen hören, idealisierten Wallfahrtsorten der Volkskultur Deiner Bürger*innen. Wenn man hier den Stimmen lauscht, bekommt man ein realitätsgetreues Abbild der Gedanken Deiner kleinen Männer und Frauen, deren Suche nach Glück im Biedermeierlichen einen Beigeschmack von projizierter Angst vor Geflüchteten, Europa-Skepsis und Enttäuschung über Politiker*innen hat.
Von Visegrad zu Czexit?
Einige Deiner Parteien haben ein Rezept entwickelt, wie man in einer öffentlichen politischen Suppenküche die enttäuschende Brühe der Kneipenstimmung mit ihrer rohen, in der Geschichte verwurzelten Opferrolle mit einem Teelöffel des vermeintlichen Patriotismus und einer Prise Populismus (oder auch mehr) abschmecken und in ein verlockendes Mahl verwandeln kann, das zahlreiche Deiner Bürger*Innen im Austausch für graue Wahlzettel zu sich nehmen.
Und so ist es dazu gekommen, dass das Wort „Czexit“ nicht nur im ironischen Wortschatz der Gäste in intellektuellen Cafés, die von den Köch*innen und Gästen der Suppenküche kritisiert werden, zu finden ist, sondern dass dieser realpolitische Unsinn auf der Speisekarte der politischen Suppenküche steht. Zum Glück wird er überschattet von Schlagern wie „fast ein Jahr ohne Regierung mit Vertrauen des Parlaments und noch länger ohne Außenminister“, dem präsidentiellen Borschtsch (in freundlicher Zusammenarbeit mit dem News-Catering-Service „Kremel´sche Delikatessen“) oder dem solidarischen Visegrader Auflauf, der aus Widerstand gegen Migrant*innen und Kritik am freien Mandat Deiner Europaabgeordneten zubereitet wird.
Aber keine Angst, diese Suppenküche besitzt kein Monopol. In Deinem Herzen finden sich Menschen und Parteien, die diese lauwarmen Speisen infrage stellen. Menschen, die mehr Wert auf Offenheit, Transparenz und Kohärenz legen. Ihre Gerichte werden erstmal mit Vorsicht genossen, denn es braucht Zeit, bis sich Deine Bürger*innen wieder daran erinnern, wie eine progressive, europafreundliche und hoffnungsvolle Politik riecht und schmeckt.
Liebes Tschechien, ich wünsche Dir von ganzem europäischen Herzen, dass Dich diese Menschen aus der Macht der verdrießlichen Mantras der Kneipe und der politischen Suppenküche führen und Deine Bürger*innen mit positiver Energie füllen. Mögen sie nicht nach ein paar Jahren zu eben jenen Suppenköch*innen werden, die sie jetzt anprangern.
Alles Gute zu Deinem Jubiläum und auf ein nächstes in der europäischen Großfamilie!
Mit hoffnungsvollen Grüßen
Aleš Janoušek
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