Zum Ende unseres Themenschwerpunkts „Grenzen“ stellen wir euch heute einen Gastbeitrag des partizipativen Online- Magazins „sai“ vor.
Grenze ist nicht gleich Nation
Dieser Begriff von Grenzen ist stark von der europäischen Idee des Nationalstaats geprägt und suggeriert ein klares HIER und ein anderes DORT. Nicht ohne Grund sind Symbolbilder für das Wort „Grenze“ Schlagbäume, Stacheldraht oder Mauern. Und jeder, der schon mal auf die Einreise in einen anderen Staat gewartet hat, weiß wie real sich eine „Grenze“ anfühlen kann.
Doch blicken wir um uns herum, sehen wir eher Kontinuitäten anstatt eindeutiger Grenzen. Natürliche Grenzen, wie Baumgrenze, Schneegrenze, Flüsse, Meere oder Wettergrenzen wandeln sich stetig. Ist das noch Matsch, oder schon Schnee?
Rechtliche Grenzen sichern unser friedliches Zusammenleben. Doch auch diese Grenzen verändern sich stetig, verschieben sich durch den Wandel unseres Zusammenlebens. Kulturelle Grenzen, wie Sprachgrenzen, Kulinarisches oder Bräuche sind noch schwerer zu fassen. Fühle ich mich wieder zu Hause oder plötzlich fremd und was ist, wenn ich in der Fremde wie daheim empfangen werde und mich zu Hause fremd fühle? Wann oder woran merke ich, dass diese Grenzen existieren? Wo hören Pfannkuchen auf und wo fangen Eierkuchen an? Und warum brauchen wir dafür eigentlich Grenzen?
Schlussendlich können Grenzen auch ganz persönlich sein – die Grenze meiner Komfortzone ist vermutlich weniger eindeutig, als ich mir das vorstelle. Die Grenze meiner Intimsphäre hingegen erscheint noch ungreifbarer, je nachdem wie meine Tagesverfassung ist und wem ich begegne.
Reale Grenzen im Kopf
Vielleicht sind Staatsgrenzen ja bloß ein markanter Sonderfall des Grenzbegriffs und Grenzen beschreiben stattdessen viel eher einen Übergang: Einen Ort an dem Veränderung stattfindet; an dem sich etwas unterscheidet, das unsere Einstellungen, Ansichten, Wahrnehmung und Akzeptanz tangiert. Je länger man über das Wort Grenze nachdenkt, umso deutlich wird, dass Grenzen vielmehr bedeuten, als bloß Stacheldraht, Mauern und Meere. Sie formen sich in unseren Köpfen und formen dann selbst die Kategorien, in denen wir denken. Und jedes Mal, wenn etwas nicht in eine Kategorie passt, dann wissen wir was eine Grenze ist. Wir brauchen Kategorien zum Verstehen und Denken, und Kategorien brauchen Grenzen, damit wir unsere Wahrnehmung erfassen und verstehen können.
WIR sind dran
Wir sollten stets versuchen, unsere gedanklichen Konstrukte von unterschiedlichsten Grenzen zu entlarven. Das nehmen wir, als Mitglieder bei SAI, uns an dieser Stelle zum Anlass, unsere verschiedenen Vorstellungen und Erlebnisse von Grenzen zu zeigen.
Gemeinsam Grenzen und Barrieren überwinden
Das sind Tommy und Karo. Tommy kommt aus Freiburg, Karo aus Xalapa in Mexiko. Die beiden haben sich vor knapp 3 Jahren bei einem Auslandssemester in Madrid kennengelernt. Da Tommy zu diesem Zeitpunkt bereits über gute Spanischkenntnisse verfügte, begann die Beziehung auf Spanisch und nicht auf Englisch. Seit Karo nach Deutschland gezogen ist und einigermaßen Deutsch kann, kommunizieren sie größtenteils auf Deutsch. Um den Sprachlernprozess noch effektiver zu gestalten, verbesserten sie sich von Anfang an gegenseitig. Und obwohl das manchmal nervig sein kann, hilft es beiden, die Sprache des Anderen immer besser zu beherrschen und zu verstehen. Denn um die Gedanken und Gefühle ihres Partners bei wichtigen Themen besser nachvollziehen zu können, sehen es beide von Vorteil, wenn dieser sich in seiner Muttersprache ausdrücken kann.
Sie sind sich sicher, dass die Sprache vor allem bei der Liebe eine Grenze ist, die es zu überwinden lohnt und dabei von beiden überschritten werden sollte.
Wie viel Grenze halten Menschenrechte aus?
Wenn wir es nicht tun, tut es keiner! Wenn zivile Seenotretter nicht tagtäglich draußen auf dem Meer wären, wären dieses Jahr noch mehr als die ohnehin schon ca. 580 Menschen vermisst. Und dass dazu diese Arbeit – der letzte Funken der Menschlichkeit – kriminalisiert wird, ist schockierend und frustrierend!
„Wer Fehler macht, wird zahlen“ – mit diesem Tweet hat Salvini nach der Verhaftung von Carola Rackete dann den Vogel abgeschossen. Dass ein europäischer Politiker dies frei verkünden kann und andere PolitikerInnen sich gegen derartige Aussagen nicht klar positionieren, zeigt, in welch‘ prekärer Lage wir uns befinden.
Halt! – Hier ist meine Grenze
Ein Zwinkern. Die Zunge des mir absolut unbekannten Mannes leckt über seine Lippen, er hebt so übertrieben wie in einem Clownskostüm seine Augenbrauen, damit ich auch wirklich nicht missverstehe, dass ich gemeint bin und ich möchte mich übergeben. Das will ich den anderen Menschen in der U-Bahn aber auch nicht antun und so schaue ich aus dem Fenster. Ekel und ein leiser Schauer krabbeln mir über den Rücken. Und das Kopfkino beginnt.
Eine völlig fremde Person kann so einfach und so schnell meine Grenzen übertreten und in mein Wohlbefinden eingreifen. Es braucht noch nicht einmal klassisches Catcalling, es funktioniert auch ohne Sprache. Wie verdammt häufig findet Belästigung und sexistisches Verhalten auf diese beinahe stumme Art und Weise statt und persönliche Grenzen werden ignoriert oder ausgenutzt.
Wir sind Grenzen
Grenzen sind unsere täglichen Gewohnheiten. Grenzen sind Beschränkungen, die uns Sicherheit geben. Grenzen sind Beschränkungen, die uns schützen vor dem anderen. Grenzen sind Beschränkungen, die uns hindern, wenn wir unseren Weg gehen wollen.
Ich bin meine Grenze. Du bist (m)eine Grenze. Ich kann mich selbst durch meine Gedanken, Worte und Handlungen innerhalb meiner selbst auferlegten Grenzen bewegen. Häufig drehe ich mich innerhalb dieser im Kreis. Ich kann sie aber auch sprengen. Deine Grenze, die du dir auferlegst, kann mich eingrenzen oder mir helfen, meine eigene zu erweitern, sodass ich besser atmen kann.
Die Grenze
Die Anerkennung und Umsetzung von Menschenrechten innerhalb der letzten 70 Jahre bedeutet theoretisch und in der Tat jedem Menschen über religiöse, nationale und geschlechtliche Grenzen hinweg die gleichen Rechte zuzusprechen. Dieses universale kantianische Prinzip betrachtet die Menschheit als „Zweck an sich selbst“. Die Aufhebung der erwähnten, unterschiedlichen Grenzen ist Basis des Gleichheitsverständnisses in der bürgerlichen Gesellschaft. In der Geschichte der Menschheit haben solche Grenzen zahlreiche blutige Kriege zwischen den Völkern hervorgerufen und auch in den einzelnen Gesellschaften Tragödien und zerstörte Beziehungen hinterlassen.
Rechtsextremisten treten heutzutage für eine Verstärkung der nationalen Grenzen und die Aberkennung gleicher Rechte für alle Menschen ein. Es ist eine Reproduktion der Fremdenfeindlichkeit. Diese von Hass getriebenen Ansichten blenden die Vernunft aus und bauen alte, hassvolle Grenzen wieder auf. Rechtsextreme fordern sogar den irrealen Wiederaufbau ethnopluralistischer Nationen.
Wir müssen gegen solche schamlosen Versuche aufstehen und das aufklärerische Bewusstsein in allen sozialen, politischen und kulturellen Ebenen der Gesellschaft zurückbringen und wieder verbreiten. Rechtsextremismus und Nationalismus sind gefährliche Grenzen für unsere Freiheit und Demokratie. Damit zerstören sie den Frieden, in dem wir leben und der unsere Freiheit und Grenzenlosigkeit sichert.
Grenze
Ich verschiebe meine Grenzen bis ich innehaltend erkenne, dass ich mich keinen Millimeter weggelebt habe, weil ich am Bahnsteig warte und es wieder Nacht ist in Deutschland und warm. Bald wird die Dunkelheit sich öffnen für den Tag und die Masse, die unterwegs ist auf der Bedürfnisgeraden, wird alle Fragen nach dem Anderen verschlucken. Bald wird hier ein anderer Moment sein. Es sterben die anderen in dieser Grenze. Es ist gelogen und es leidet mein Sinn. Hier gibt es nichts Anderes, es ist die wahrste Fiktion.
Wir sind alle hier.
So verschieben wir Grenzen in die Luft, die zu Himmel wird, hinein in diese Zeilen, zwischen denen keine Kontrolle verläuft, nur ein Ich, das sich in den Buchstaben vergessen kann. Und kurz vor Sonnenaufgang liegt dann Nebel in den Kleinstadtstraßen. Verrät, dass die Magie, dieses Irren und Strebens, möglich und unmöglich, stets neu verhandeln wird.
Es verläuft keine Grenze zwischen Ende und Anfang. Wenn wir keine Ausrede mehr anerkennen, dann wendet sich die Geschichte, und verliert dann dies eine Wort, das mich hält in die
G
R
E
N
Z
L
O
S
I
G
K
E
I
T
Neugier jenseits der eigenen Grenzen
Nach meinem Abitur habe ich für ein Jahr bei einer erlebnispädagogischen Bergschule in den Alpen gearbeitet. Alle ein bis zwei Woche kamen neue junge Menschen zu uns, um in Gruppenprojekten, beim Klettern, auf Skiern oder unterwegs auf Hüttentour mit Unterstützung eines Trainers mehr über ihre Gruppe und sich selbst zu erfahren. Beim Ausgeben des Bergmaterials verhielten sich die meisten Gruppen, wie es junge Menschen oft eben tun: Da ein bisschen zu viel Grüppchen, dort ein bisschen zu cool, die Grenzen fest und alles Neue etwas ungläubig angeguckt.
Und dann: Outward Bound – Raus aus den Grenzen des sicheren Hafens!
Die gleichen Gruppenteilnehmer*innen, die mir nach ein bis zwei Wochen ihr Bergmaterial zurückbrachten, hatten ganz langsam über diese Zeit ihre eigenen Grenzen verschoben. Das Schönste daran ist, wie glücklich jede*r damit für sich selbst war, wie gut sich aber genau das auch auf die ganze Gruppe auswirkte. Gelehrt hat es mich, dass wenn Gruppenteilnehmer*innen aufeinander achten, einander stärken und unterstützen und nicht aufgeben, sondern sich herausforderen, jede*r Einzelne wächst. Und das schiebt unsere persönlichen Grenzen hinaus und erweitert unseren Horizont.
Artikel von Mitgliedern des sai Kollektivs Anne Mehrpohl, Daniel Cohen, Friedrike Teller, Flora Jansen, Jale Pakhuylu, Justin Adam und Salar Pashai
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