Zur Mittagszeit in der Innenstadt. Die Sonne knallt auf die Straße, Busse und Autos rollen vorbei. Eine Situation, die fast jeder kennt. Menschen steigen aus und ein, warten, strömen in die Gassen oder schlängeln sich durch die Massen. Jeder ist auf sich allein gestellt. Jeder hat ein anderes Ziel. Jeder ist in seine Welt versunken. Ich selbst bin Beobachter dieser ungeordneten Masse, und doch auch ein Teil von ihr. Aber wieso bin ich nicht nur ich, sondern gehöre zu diesen „Anderen“ dazu? Was macht mich zu einem Teil des Ganzen?
Als „Zoon politikon“, als soziales, politisches Wesen, bezeichnete schon der griechische Philosoph Aristoteles den Menschen. Der Mensch ist ein Gemeinschaftstier. Wir leben in Gruppen oder Staaten und sind auf Kommunikation und emotionale Nähe angewiesen. Die erste Gemeinschaft, die wir im Leben kennenlernen, ist meist die Familie. Später kommen Klassen- und Nachbargemeinschaften, Sportvereine oder auch religiöse und politische Gemeinschaften dazu und – im Zeitalter der Digitalisierung – die zahlreichen sozialen Netzwerke. Unsere eigene Identität wird von diesen Gemeinschaften geprägt. Diese unterschiedlichen Formen der Gemeinschaft bezeichnet man allgemein als Gesellschaft. Sie ist bunt, vielfältig und in einem stetigen Wandel.
Ohne Gesellschaft wäre der Mensch zu jedem Zeitpunkt in Gefahr, da jeder nur an seinen eigenen Vorteil denken würde. Der englische Philosoph Thomas Hobbes beschreibt diesen Zustand mit dem Satz: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“ Eine relativ pessimistische Ansicht. Um diesen Kampf aller gegen alle zu unterbinden und Frieden zu garantieren, schließen sich Menschen zu einem Staat zusammen, an den sie Macht und Verfügungsgewalt abgeben.
Aber wie soll so eine politische Gemeinschaft aussehen? Im Gegensatz zum Tier kann der Mensch sich die Regeln seines Zusammenlebens selbst geben. In der Realität kann aber leider nicht jeder Einzelne mitbestimmen, wie die Gesellschaft, in der er lebt, aussehen soll. Inwieweit unsere Meinung zählt, ist vor allem von der Herrschaftsform des Staates abhängig. In Demokratien haben wir als Individuum deutlich mehr Einfluss auf die Politik als in autoritären Systemen, wenn man von deren Führern einmal absieht.
Idealerweise können wir selbst entscheiden, wie wir unser Leben leben wollen und nach welchen moralischen Regeln. Klar, jeder hat unterschiedliche Interessen und Stärken. Trotzdem wollen wir eine faire Gesellschaft, in der jeder gleich behandelt wird. Gemeinsam müssen wir diese Gesetze, die wir uns selbst geben, immer wieder neu verhandeln und diskutieren. Dabei kommt es darauf an, die richtige Balance zu finden, sodass jeder Einzelne in der Gesellschaft gleich und gerecht behandelt wird und sich trotzdem vielfältig und frei entfalten kann.
Der amerikanische Philosoph John Rawls hat sich zu der Frage, wie man eine faire Gesellschaft gestalten kann, den berühmten „Schleier des Nichtwissens“ ausgedacht. Er vermutet, dass man eher eine faire und unparteiische Gemeinschaft gründen kann, wenn man nicht weiß, welchen Platz man in dieser Gemeinschaft haben wird. So wäre es für ihn wahrscheinlicher, dass Reichtum und Wohlstand gleich verteilt werden. In der Realität sind wir aber eine konkrete Person in einer Gesellschaft, ein Schüler oder eine Schülerin, ein Sohn oder eine Tochter, reich oder arm. Wir kommen aus verschiedenen Teilen der Welt, sprechen andere Sprachen und sind in anderen Kulturen aufgewachsen. Was „gut“ und was „schlecht“ ist, sieht jeder anders. Diesen Pluralismus müssen wir uns bewusst machen und auch andere Meinungen und Lebensweisen tolerieren. Gerade im Zeitalter der Globalisierung können wir uns nicht einfach abschotten, sondern müssen kommunizieren und uns auf gemeinsame Werte einigen. Für die Weltgemeinschaft müssten das zum Beispiel die Menschenrechte sein, sie stehen rein theoretisch jedem von uns gleichermaßen zu. Aber es gibt trotzdem noch unzählige Länder, in denen sie missachtet werden und bestimmte Freiheiten einfach nicht gegeben sind.
In der Gesellschaft sollte jedoch jeder die Möglichkeit haben, sein eigenes Leben möglichst ohne äußere Zwänge zu leben und sich zu verwirklichen. In dieser Gesellschaft des Individualismus darf jedes Individuum nach seinen Vorstellungen leben. Laut dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre ist der Mensch nichts anderes als das, wozu er sich macht. Sein eigenes Wesen und seine Persönlichkeit kann jeder Mensch also selbst definieren. Diese Freiheit bedeutet aber auch, dass er Verantwortung für sich und seine Handlungen übernehmen muss. Außerdem hat jeder Einzelne von uns auch eine gewisse Verantwortung gegenüber der Natur und seinen Mitmenschen. Die Gemeinschaft ist auf uns angewiesen. Wir müssen Verantwortung übernehmen. Jeder kann Zivilcourage zeigen oder sich ehrenamtlich engagieren und dabei andere unterstützen und die Gesellschaft voranbringen. Auch in der Familie oder im Verein können wir für das Gemeinwohl aller sorgen. Denn es reicht eben nicht nur, wenn wir an uns selbst denken. In der Gemeinschaft sollte jeder jedem helfen.
Durch dein, mein und unser Verhalten können wir als Einzelner, aber auch als Gemeinschaft die Welt gestalten. Alleine können wir schon eine kleine Wirkung erzielen, aber als Masse können wir noch viel mehr erreichen. Nur gemeinsam können wir Druck ausüben und die Welt verändern. Denn in der Politik oder in der Wirtschaft bewegt sich oft nur dann etwas, wenn es von vielen Menschen erzwungen wird. So können wir gemeinsam gegen Probleme wie Ungerechtigkeit, humanitäre Katastrophen oder Umweltverschmutzung vorgehen. In unseren unruhigen Zeiten ist es wichtig, dass wir über die Gesellschaft, in der wir leben, und auch in Zukunft leben wollen, kontrovers diskutieren. Nur so können wir einen bestmöglichen Konsens erreichen und eine Gesellschaft schaffen, in der jedes Individuum seinen Interessen nachgehen kann.
Denn wir gestalten unsere Gesellschaft und unsere Gesellschaft gestaltet uns.
Dieser Artikel wurde zuerst in der Schülerzeitung Blickkontakt veröffentlicht. Blickkontakt ist ein Kooperationspartner von treffpunkteuropa.de.
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