In einer post-faktischen Umgebung braucht Europa mehr gelebte Wirklichkeit

Treffpunkt Europa Essay Wettberwerb

, von  Simon Schütz, übersetzt von Theresa Bachmann

In einer post-faktischen Umgebung braucht Europa mehr gelebte Wirklichkeit
Camille Orgel/ Unsplash/ No License

treffpunkteuropa.de hat im Februar einen transnationalen Essay-Contest ausgerufen. Besonders viele Einsendungen erreichten uns zu Thema 3 mit der Frage: „Hin zu einer Kultur des “anything goes” in Europäischer Geschichte und Erinnerungskultur?“ Autoren sollen in ihrem Essay über Phänomene wie „alternative Fakten“ und „post-truth“ im Kontext geschichtlicher Argumentationen nachdenken, sowie über die Fallstricke historischer Analogien und das damit verbundene Potential für politische Manipulation. Jeden Samstag wird ein Essay veröffentlicht.

Europa geht es besser. Die Arbeitslosenrate sinkt. Die Wirtschaft wächst. Wahrheit oder Illusion?

Diese Sätze fassen die derzeitige Berichterstattung zusammen, die Argumente basieren auf Zahlen, auf aktuellen Statistiken. Aber: Würde der spanische Student, der verzweifelt nach einem Job sucht, dem zustimmen? Der griechische Familienvater, der gerade einen Halbtagsjob gefunden hat, der aber nur einen Teil seiner monatlichen Kosten deckt? Die Stahlarbeiter an vielen Orten Europas, die erst kürzlich ihre Jobs verloren haben, während sie dem Narrativ einer grüneren und besseren Zukunft lauschen?

Höchstwahrscheinlich werden sie stark widersprechen. Und dabei geht es nicht nur um ihr Gefühl bzw. ihre Wahrnehmung der Realität, wie es manche Experten seit kurzem abwertend bezeichnen, sondern um gelebte Wirklichkeit. Wähler fangen an, sich von den Parteien abzuwenden, für die sie sonst aus Gewohnheit gestimmt haben. Sie fangen an, ihren Glauben an ein europäisches Narrativ zu verlieren. Sie werden offener für Extreme. Sie wählen Populisten. Sie glauben populistischen Slogans und zweifeln an offiziellen Zahlen. Populisten, die “Meister” alternativer Fakten, haben diese Entwicklung beobachtet. Die post-faktische Ära ist ihre Chance, ihre eigenen Zukunftsideen voran zu treiben. Eine Zukunft, die größtenteils gegen Europa ist, gegen Einwanderung und für nationalistische Ideen. Diese Tendenz ist nicht revolutionär – und offensichtlich hat ihre Logik auch in aktuelle Regierungen Einzug gehalten.

Aber haben die Regierungen reagiert? Haben sie überhaupt angefangen, die Ursachen des post-faktischen Phänomens zu bekämpfen? Offen gesagt, sie sind gescheitert.

Was ist schief gelaufen?

Experten und Agenturen, die gewünschte Ergebnisse produzieren, können in diesen Tagen käuflich erworben werden. Oftmals ist es eine Frage des Geldes, die Gedanken und „Tatsachen“ zu bekommen, die für bestimmte Parteien wünschenswert sein könnten. Während das Internet Zugang zu allen Formen von Information und Quellen schafft, ist es kein Geheimnis, dass Medienkonsum hauptsächlich durch Meinungen oder gar Vorurteile bestimmt wird. In diesem Wissen sind populistische Führer, populistische Medien und andere Akteure, die die nötigen Ressourcen besitzen, in der Lage, letztere zu bestätigen. Es ist kein Geheimnis, dass neue Medien dazu fähig sind, Gefühle und Stimmungen in wenigen Stunden oder sogar Minuten zu entfachen.

Die notorische Antwort auf diese Stimmung: Statistiken, Fakten und Zahlen

Statistiken liefern Fakten. Sie schaffen eine Realität, über die man sich einig ist, eine Basis für Diskussion, eine Grundlage, wenn nach Lösungen gesucht wird. Heutzutage werden permanent Daten in Form von Erhebungen gesammelt, die dokumentieren, wie eine Gesellschaft in einem bestimmten Moment über ein bestimmtes Thema denkt. Es ist unnötig zu betonen, dass die Ergebnisse keine Aussagen über die Realität sind, sondern vielmehr Beobachtungen von aktuellen Stimmungen. Trotzdem: statistische Erhebungen geben populistischen Kräften sogar noch mehr Möglichkeiten. Es ist leicht, Daten zu erlangen und nicht sehr viel schwerer, diese für politische Projekte zu missbrauchen. Die Existenz dieser Daten erschwert es, langfristig zu denken und zu handeln ohne dabei die öffentliche Unterstützung zu verlieren.

Statistiken sind herzlos

Es gibt ein weiteres Problem mit Statistiken, das die Art politischer Debatten im Allgemeinen herausfordert. In Diskussionen über soziale oder ökonomische Themen und Situationen nutzen Politiker Statistiken, um ihre Argumente zu untermauern: das Wirtschaftswachstum, die Zahl der Arbeitnehmer, die allgemeine Lohnentwicklung. Numerische Summen und Durchschnittswerte, um über Tatsachen zu diskutieren, die das Alltagsleben der Bürger berühren – der Konflikt ist vorprogrammiert. Wenn es um emotionale Themen geht – zum Beispiel wie wir Ausgangsbedingungen fühlen, wie gewisse Umstände unseren Lebensstil beeinflussen – überzeugen Zahlen nicht. Qualitative Aussagen, also individuelle Geschichten von einzelnen Erlebnissen, Bilder, Fotos, sind wesentlich erfolgreicher darin, adäquate Antworten zu geben. Es ist nicht schwierig, Verlierer und Benachteiligte zu finden und ihre Geschichte hervorzuheben – unter anderem deswegen, weil es keine Einzelfälle sind. Diese Entwicklung hat zum Phänomen des Post-Faktischen geführt: die Indikatoren, die Journalisten, Politiker und Experten nutzten, um ihre Argumente zu untermauern, werden nicht mehr akzeptiert und angenommen. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig. Meistens nutzen Politiker Statistiken gemäß ihrer eigenen Interessen. Manchmal interpretieren sie diese zu positiv, manchmal zu negativ.

Das Hauptproblem dabei ist, dass Statistiken die individuelle Wirklichkeit nicht abbilden.

Möglicherweise wächst die ökonomische Aktivität eines Landes konstant – aber die Situation in verschiedenen Regionen kann extrem unterschiedlich sein. Eine Gemeinde boomt, während eine andere unter dem Verlust von Arbeitsplätzen oder ganzen Industrien leidet, wenn die Produktion anderswohin verlegt wurde. Statistiken über Wirtschafts- und Wohlstandswachstum sowie geringe Arbeitslosigkeit verhöhnen die Menschen, die in diesen Regionen leben. Sie beginnen, Statistiken zu misstrauen – und öffnen sich Populisten, Verschwörungen und Extremen. Nationale Indikatoren berücksichtigen lokale Kosten nicht. Die Idee von “dieses Mal verlierst du vielleicht, aber nächstes Mal gehörst du zu den Gewinnern” funktioniert nicht; schlicht und ergreifend, weil sie sich zu häufig als unwahr herausgestellt hat.

Was hat das mit Europa zu tun?

Entscheidungen, die die Währungsunion betreffen, basieren auf Indikatoren. Die Eurozone als Ganzes, mit ihren Wachstums- und Arbeitslosenzahlen, bildet nicht gelebte Erfahrung ab. Regionen, die weit weg von der allgemeinen Situation sind, sind ein Nährboden für alternative Fakten.

Was nun?

Es wäre übertrieben, dies als das Ende der Statistiken zu bezeichnen. Sie sind mindestens so wichtig wie sie es früher waren. Um überzeugender zu sein, müssten sie allerdings angepasst werden. Höhere Beschäftigungsraten sind ein Punkt – aber: Haben alle Beschäftigten genug Arbeit, um davon leben zu können? Haben sie genug Geld, um sich einen gewissen Luxus gönnen zu können? Arbeiten sie in dem Bereich, für den sie qualifiziert sind? Oder arbeiten sie nur in Teilzeit, einige Stunden in einem Bereich, der ihrer Expertise nicht entspricht?

Gelebte Realität braucht eine stärkere Stimme. Gelebte Erfahrungen müssen besser repräsentiert werden. Erfolgreich in der Politik zu sein erfordert, die Kunst der Meinungsbildung zu beherrschen. In vielen Fällen spielt das Unbewusste eine zentrale Rolle, um Einfluss zu gewinnen. Populisten, alternative Fakten und post-faktische Politiker haben die Kunst politischer Werbung durch die Nutzung von Slogans und harschen Aussagen perfektioniert. Aber: Sie sind erfolgreich, weil ihre Botschaften mit einem Teil wahrgenommener Wahrheiten übereinstimmen – selbst wenn nur ein geringer Wahrheitsgehalt darin steckt. Anstatt populistische Argumente ausschließlich zu verwerfen, sollten diese kleinen Wahrheiten identifiziert und angegangen werden. Mehr gelebte Realität sollte in das europäische Narrativ integriert werden. Statistiken müssen angepasst werden. Die, die sich zurückgelassen fühlen, brauchen eine stärkere Stimme. Die Hauptherausforderung ist, all das oben genannte in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen.

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