Beitrag zum Online-Bürgerdialog „Rechtsstaatlichkeit ade? Die EU zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V. am 12. November 2021

Ist die EU ein Garant für Rechtsstaatlichkeit?

, von  Denise Klein

Ist die EU ein Garant für Rechtsstaatlichkeit?
Bürger*innen gehen in Polen auf die Straßen. Unsplash / Külli Kittus / Lizenz

Einmal drin, immer drin – Was geschieht mit Staaten, die die Rechtsstaatlichkeit umgehen wollen?

Die Europäische Union ist beinahe täglich in den Schlagzeilen: die fehlende Unabhängigkeit der Justiz in Polen; Korruption und Anti-LGBTQ-Gesetze in Ungarn; Pushbacks an den EU-Außengrenzen wie aktuell an der Grenze zu Belarus; Ausnahmezustände und Einschränkung von Grundfreiheiten in der Corona-Pandemie. Die To-do-Liste der einzelnen Mitgliedstaaten wächst stetig. Eine einfache, schnelle Lösung für die Rechtsstaatlichkeitsdefizite scheint jedoch weit entfernt. Kein Wunder, dass so manch einer beginnt, ungeduldig zu werden: Warum unternimmt die EU nichts? Und was kann man als einfache*r Bürger*in überhaupt tun?

Diese und andere kritische Fragen prägten die Diskussion beim Online-Bürgerdialog der überparteilichen Europa-Union Deutschland am 12. November mit:

  • Prof. Dr. Eva Heidbreder – Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Regieren im europäischen Mehrebenensystem“ an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg;
  • Niklas Nienaß MdEP – Europaabgeordneter und Vorsitzender der Parlamentariergruppe der Europa-Union Deutschland.

Wie bei jeder Bürgerdialog-Veranstaltung hatte das Publikum die Gelegenheit, Fragen zu stellen und sich aktiv an der Veranstaltung zu beteiligen. Die erste Frage hätte die Diskussionen um die Rechtsstaatlichkeit in der EU nicht besser zusammenfassen können:

Quelle: Screenshot / Veranstaltung der Europa-Union Deutschland e.V.

„Ist die EU nach wie vor der Garant für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für die sie sich immer ausgibt?“. Die Einschätzung der Teilnehmenden lag irgendwo in der Mitte.

„Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass Regierung und Verwaltung nur im Rahmen bestehender Gesetze handeln dürfen. Die Bürgerinnen und Bürger werden so vor staatlicher Willkür, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen geschützt.“ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Ein funktionierendes rechtsstaatliches System ist eine der grundlegenden Voraussetzungen für den Beitritt zur Europäischen Union – eine, die sehr schwer wiegt, wenn man bedenkt, wie häufig und kritisch darüber gesprochen und damit gemahnt wird. Doch was ist, wenn die Regierungen der Mitgliedstaaten sich nach dem EU-Beitritt nicht mehr an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit halten oder gar starke Ambitionen haben, dieses abzuschaffen? Vertraglich gesehen gibt es keinen Ausschlussmechanismus aus der EU. Prof. Dr. Eva Heidbreder und der Europaabgeordnete Niklas Nienaß nahmen genau diesen Aspekt als Herausforderung wahr, vor der die europäische Gemeinschaft momentan stehe.

„Geld nur gegen Rechtsstaatlichkeit“

Heidbreder stellte klar, dass das EU-Kooperationsbündnis seit Jahren auf „wundersame“ Art und Weise funktioniere. Denn sich an Regeln zu halten, bedeute eben für viele Staaten, dass es ihnen besser gehe – vor allem in finanzieller Hinsicht. „Geld nur gegen Rechtsstaatlichkeit, Finanzierung nur für Werte“, so forderte es Nienaß. Das erhöhe den Druck auf Staaten, die auf EU-Gelder angewiesen seien, wie es beispielsweise bei Polen der Fall ist. Das Land, das 2004 der EU beitrat, ist einer der größten Nettoempfänger – also ein Staat, der von der EU mehr Geld ausgezahlt bekommt, als er an die Gemeinschaft an Abgaben zahlt. Strafzahlungen, die durch einen Verstoß gegen die Grundwerte und Prinzipien erhoben werden, können den politischen Druck daher erhöhen.

Wegen einer umstrittenen Justizreform verhängte der Europäische Gerichtshof im Oktober dieses Jahres eine Geldstrafe gegen Polen, die definitiv beglichen werden muss: Eine Million Euro pro Tag, solange weiterhin gegen EU-Recht verstoßen wird. Wenn nicht gezahlt wird, wird das Geld stattdessen aus den EU-Zahlungen abgezweigt – finanziell tue das weh, so Nienaß. Doch der Vorsitzende der Parlamentariergruppe der Europa-Union sah diese Maßnahme auch kritisch: Denn was wäre nun, wenn Deutschland eine Geldstrafe bekäme? Nach Berechnungen der dpa wurden 2020 etwa 9,5 Milliarden Euro von Deutschland an die EU gezahlt. Länder wie Polen (und auch Ungarn) sind auf dieses Geld angewiesen, Deutschland eher weniger. Eine Geldstrafe hätte also weitaus weniger Effekt als es aktuell bei Polen der Fall ist. Nienaß sah deshalb Handlungsbedarf: „Wir brauchen härtere Maßnahmen.“ Mehr, als „nur“ finanzielle Strafen.

Rückenwind für pro-europäische Kräfte

Um diese Maßnahmen zu entwickeln, braucht es definitiv länger als einen Abend, das zeigte die Diskussion deutlich. Heidbreder sah aber auch einen anderen Weg, um gegen Verstöße vorzugehen: klaren politischen Willen zeigen und sich deutlich gegen Regierungen stellen. „Deutschland war immer sehr vorsichtig mit Kritik“, merkte sie an. Dabei gäbe es z.B. innerhalb der polnischen Gesellschaft große Zustimmung zur EU, die nationale Regierung handle allerdings in vielen Fragen genau gegensätzlich. Sich öffentlich gegen die Regierung auszusprechen, wäre für die Bürger:innen und die Opposition im Land wie Rückenwind.

Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, zukünftig keine Verträge mehr mit Ländern abzuschließen, die sich nicht an Grundbestimmungender EU halten wollen, - so wie es beim Corona-Wiederaufbaufonds 2020 angedroht wurde. Polen und Ungarn kündigten an, Veto gegen den Fonds einzulegen, wenn die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit als Bedingung bestehen bliebe. Daraus erhob sich das Gedankenspiel „dann eben ohne sie“. Ob Kinderspielplatz oder große weltpolitische Bühne: Wer die Regeln nicht einhält, der spielt eben nicht mit. Dennoch gilt auch hier: Wenn das Spiel am Ende auf dem Rücken aller Bürger*innen ausgetragen wird – auch jenen, die der EU positiv gegenüberstehen, so ist diese Entscheidung nicht leichtfertig zu treffen.

Rechtsstaatlichkeit unterstützen: Die Möglichkeiten von Bürger:innen

Rechtsstaatlichkeit als Teil der demokratischen Grundordnung der EU ist damit ein Grundrecht, das jedoch von den Bürger:innen auch aktiv mitgestaltet und gestärkt werden kann. Dafür braucht es breite demokratische Bildung, da waren sich Niklas Nienaß und Eva Heidbreder einig. Denn nur wenn ein Interesse für die Aktivitäten des Staates und ein Verständnis über die Funktionsweise besteht, sind Bürger:innen auch in der Lage für ihre Rechte einzustehen und diese auch einzufordern. Neben der reinen Wissensvermittlung können Bürger*innen:

#Polexit?

„Nein“ und „Nein.“ – Einen Austritt Polens aus der EU sehen weder Prof. Dr. Eva Heidbreder noch Niklas Nienaß. Denn beide haben Vertrauen – etwas das die europäische Gemeinschaft ausmacht und heutzutage mehr denn je braucht. Vertrauen darauf, dass sich alles wieder in die richtigen Bahnen lenken lässt. Ist die EU also noch Garant für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Vielleicht war sie es nie, aber sie kämpft darum, diese Werte und Prinzipien auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.


Dieser Beitrag ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Europa-Union Deutschland und treffpunkteuropa.de entstanden, in der wir über die bundesweite Bürgerdialogreihe „Europa - Wir müssen reden!“ berichten. Die interaktiven Online-Bürgerdialoge ermöglichen einen offenen Austausch und ehrliche Verständigung, um politische Beteiligung auch während der COVID-19-Pandemie aufrechtzuerhalten. Der Online-Bürgerdialog am 12. November wurde von der Europäischen Union kofinanziert und vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung unterstützt. Mehr Infos gibt es hier.

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