Es ist seltsam, wie offen die westeuropäischen Unabhängigkeitsbewegungen gegenüber ihrer Umwelt sind. Während die Katalanen zu Tausenden für die Abspaltung ihrer Region auf die Straße gehen, bedienen sich die Schotten des Gesetzgebungssystems, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Trotz der Ablehnung des jeweils übergeordneten Nationalstaats ist es nicht das Ziel der Separatisten, sich gänzlich abzuspalten. Vielmehr machen sie sich die europäische Identität – und die Europäische Union – zu Eigen.
Dies spricht für die Stärke der europäischen Integration, und zwar nicht nur der einfachen Integration der Märkte, der Gesetzgebung oder der politischen Macht. Es signalisiert ein wahrhaftes Umdenken. Die Kombination aus nationalistischen Empfindungen und EU-Bestrebungen kann für Europa dabei durchaus vorteilhaft sein. Die EU sollte sich zu diesen Entwicklungen bekennen und entsprechend agieren, statt sie weiterhin abzuweisen, wie die Kommission es bisher getan hat. Die Kombination aus nationalistischen Geist und EU-Bestrebungen kann für Europa durchaus vorteilhaft sein.
Integrationsseparatismus
Der Vorsitzende der separatistischen Partei Scottish National Party (SNP), Alex Salmond ist der Überzeugung, dass ein unabhängiges Schottland in der EU mehr Gehör als bisher finden würde. Umso mehr tritt er und seine Partei für eine Annäherung an die EU ein – für manchen Nationalisten eine geradezu paradoxe Vorstellung. Auch in Katalonien heißt es laut Umfragen, dass die Unterstützung für eine Unabhängigkeit einbrechen würde, sobald diese einen Austritt aus der EU zur Folge hätte. Letztendlich ist Katalonien nicht gleich Spanien und Schottland nicht gleich England. Europäer sind sie aber alle.
Die Europäische Kommission zeigte sich herablassend gegenüber der Begeisterung der Nationalisten für Europa. Dies wurde besonders deutlich, als Kommissionsvizepräsident Joaquín Almunia sich zu Katalonien äußerte: „Wenn ein Gebietsteil eines Mitgliedstaats seine Unabhängigkeit wünscht, wird es der Europäischen Union nicht automatisch angehören“. Die Kommission beobachte die katalanische Unabhängigkeitsbewegung mit Besorgnis und wolle die Situation „wieder in Ordnung“ bringen.
Die Vorzüge des neuen Nationalismus
Bis vor wenigen Jahren war die Entstehung eines europafreundlichen Separatismus bestenfalls unwahrscheinlich. Nationalistische Bewegungen wollen herkömmlicherweise sich von einer bestimmten Gruppe abspalten. Der englische Schriftsteller George Orwell definierte Nationalismus als die „Angewohnheit, sich mit einer einzigen Nation oder sonstigen Einheit zu identifizieren, diese jenseits von Gut und Böse zu stellen und dabei einzig und allein die Pflicht der Wahrnehmung ihrer Interessen anzuerkennen“.
Klassische Beispiele des zeitgenössischen Nationalismus sind die UK Independence Party (UKIP) und der französische Front National. Beide gewinnen zunehmend an politischem Gewicht und bauen ihre Argumentation auf einen Rückzug aus der „schrecklichen Außenwelt“ auf. Grundlage sind Unsicherheiten, wie sie etwa die Finanzkrise in der Eurozone darstellt. Der Nationalstaat als politische Gemeinschaft „ähnlicher“ Menschen wird als sicherer Hafen angesehen. Genau diese Art von Nationalismus kann aber eskalieren und in gefährliche, sektenartige Bewegungen münden.
Von dieser Tradition ist in Katalonien und Schottland wenig zu sehen. Kernthema ist nicht nur die Selbstverwaltung, sondern auch der Wille zu politischen Reformen und zur europäischen Integration. Obgleich die Abspaltung der Regionen zur Entstehung von zwei neuen Nationalstaaten führen würde, dürfte der vorhandene Integrationsgeist gegen sektiererische Entwicklungen wirken. Statt sich mit einer einzigen Nation zu identifizieren, könnten Katalonien und Schottland eine Vorreiterrolle bei der Schaffung eines neuen, aufgeschlosseneren Nationalismus einnehmen. Unabhängig von ihren Erfolgsaussichten sollte ihr Integrationsgeist deshalb unterstützt werden.
Politische statt ethnische Gemeinschaften
Angesichts der derzeitigen Unabhängigkeitsbestrebungen in der EU besteht das Potenzial für schrittweise Verschiebungen im Entscheidungsfindungsprozess, sodass dieser zunehmend von der Volkszugehörigkeit entkoppelt wird. Dabei sollten die Strukturen sowohl auf EU als auch auf lokaler Ebene verteilt werden. Die Idee eines europäischen Identitätsmerkmals für Einzelne als auch für Gruppen hat in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Die Gefahr besteht zwar, die europäischen Nationalstaaten abzuschaffen – und gleichzeitig einen noch größeren, vereinten europäischen Staat zu schaffen. Schon Jean-Jacques Rousseau hat seinerzeit davor gewarnt. Ungeachtet der wirtschaftlichen Erfolgsaussichten der Eurozone haben wir aber die Möglichkeit, eine politische Gemeinschaft auf einer anderen Grundlage als die Volkszugehörigkeit zu schaffen, nämlich Gemeinschaften, die auf politische Grundsätze aufbauen. Diese Chance sollten wir ergreifen.
In diesem Sinne sind bilden die Separatisten aus Katalonien und Schottland einen markanten Kontrast zu Bewegungen wie die UKIP oder den Front National. Der Erfolg dieser Bewegungen ist nicht vorhersehbar.. Sicher ist aber: Eine Situation muss hier nicht „wieder in Ordnung“ gebracht werden.
Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch bei one-europe erschienen.
Photo credits: Núria via Wikimedia Commons & Thomas Widmann via Flickr.
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